Die hessischen Regionalgruppen der Scientists for Future (S4F Hessen) wollen das Land Hessen beim Erreichen seiner Klimaschutzziele und bei seiner notwendigen Klimaanpassung aus wissenschaftlicher Perspektive unterstützen. Hierfür stellen sie in diesem ersten Schritt für die anstehende Fortschreibung des integrierten Klimaschutzplans des Landes eine unabhängige wissenschaftliche Bewertung des derzeitigen integrierten Klimaschutzplans von 2017 bereit und werden den Prozess weiter kritisch aus wissenschaftlicher Perspektive begleiten.
Der Bericht analysiert zuerst den bestehenden integrierten Klimaschutzplan von 2017 aus wissenschaftlicher Perspektive. Dabei bewerten sie, inwieweit die dort formulierten Ziele im Hinblick darauf, was nach wissenschaftlichem Konsens zumindest notwendig wäre, um den hessischen Anteil des Pariser Klimaabkommens zu erfüllen. Weiter bewerten sie die im Klimaschutzplan formulierten Maßnahmen im Hinblick auf ihren Beitrag zur Zielerreichung. Darauf aufbauend geben sie fundierte Vorschläge für weitere effektive Maßnahmen zu Klimaschutz und Klimaanpassung, dazu wie ein zukünftiger Beteiligungsprozess gestaltet werden könnte und wie wirkungsvolle Maßnahmen zukünftig umgesetzt werden können.
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Scientists for Future Hessen Die hessischen Regionalgruppen Darmstadt | Frankfurt | Gießen | Kassel | Marburg |Wiesbaden Der integrierte Klimaschutzplan des Landes Hessen Wissenschaftliche Bewertung des iKSP von 2017 durch S4F Hessen Wissenschaftlich begründete Anforderungen an Klimaschutz und Klimaanpassungen in Hessen Version 1.0 vom 10. Januar 2021 1 2 3 4 5 6 Sven Linow , Ralf Becherer , Angela H. Helbling , Ulrike Jordan , Istemi Kuzu , Gerald Moser , 7 8 9 Maik Schöniger , Thomas Seifert , Axel Wolfermann . Zitiervorschlag: Linow S, Becherer R, Helbling A et al. (2021) Der integrierter Klimaschutzplan des Landes Hessen. Wissenschaftliche Bewertung des iKSP durch S4F Hessen (Version 1.0), https://doi.org/10.5281/zenodo.4420166. Scientists for Future (S4F) sind ein überparteilicher und überinstitutioneller Zusammenschluss von Wissenschaftler:innen aus allen Disziplinen. Angesichts der historisch beispiellosen, globalen Klima-, Biodiversitäts- und Nachhaltigkeitskrise sehen wir uns in der Pflicht, öffentlich und proaktiv die Stimme zu erheben. Wir bringen den aktuellen Stand der Forschung in wissenschaftlich fundierter und verständlicher Form in die gesellschaftliche Debatte um Nachhaltigkeit und Zukunftssicherung ein. So wollen wir zu sachlichen politischen Diskussionen beitragen und den gesellschaftlichen Dialog fördern. Mehr Informationen unter https://de.scientists4future.org/ Dieser Text wurde von Mitgliedern der hessischen Scientists for Future Regionalgruppen verfasst und durch Kolleg:innen im Kreise der Scientists for Future hinsichtlich der wissenschaftlichen Qualität (insbesondere der Belegbarkeit von Argumenten) ausführlich geprüft. Veröffentlicht unter CC-BY-SA 4.0 1 Corresponding Author , Prof. Dr.-Ing. Sven Linow, Hochschule Darmstadt, Fachbereich Maschinenbau und Kunststofftechnik, Schöfferstraße 3, 64295 Darmstadt, https://orcid.org/0000-0001-8354-3710 2 Dr. Ralf Becherer, Hanau 3 Dr. Angela H. Helbling, Goethe-Universität, Institut für Geowissenschaften, Altenhöferallee 1, 60438 Frankfurt am Main; https://orcid.org/0000-0001-9788-7610 4 Prof. Dr. Ulrike Jordan, Universität Kassel, Institut für Thermische Energietechnik, Kurt-Wolters-Straße 3, 34109 Kassel. https://orcid.org/0000-0002-6614-9006 5 Dr. Istemi Kuzu, Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Chemie, Hans-Meerwein-Straße 4, 35032 Marburg, https://orcid.org/0000-0003-3691-4691 6 Dr. Gerald Moser, Justus-Liebig-University Gießen, Pflanzenökologie, Heinrich-Buff-Ring 26, 35392 Gießen, https://orcid.org/0000-0002-0030-2370 7 M.Sc. Maik Schöniger, Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Chemie, Hans-Meerwein-Straße 4, 35032 Marburg, https://orcid.org/0000-0001-6462-8903 8 Dr. Thomas Seifert, Hattersheim 9 Prof. Dr.-Ing. Axel Wolfermann, Hochschule Darmstadt, Fachbereich Bau- und Umweltingenieurwesen, Schöfferstraße 3, 64295 Darmstadt, https://orcid.org/0000-0002-6571-9791 S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 1 1 Zusammenfassung Wir hessischen Regionalgruppen der Scientists for Future (S4F Hessen) wollen das Land Hessen beim Erreichen seiner Klimaschutzziele und bei seiner notwendigen Klimaanpassung aus wissenschaftlicher Perspektive unterstützen. Hierfür stellen wir in diesem ersten Schritt für die anstehende Fortschreibung des integrierten Klimaschutzplans des Landes eine unabhängige wissenschaftliche Bewertung des derzeitigen integrierten Klimaschutzplans von 2017 bereit und werden den Prozess weiter kritisch aus wissenschaftlicher Perspektive begleiten. Unser Bericht analysiert zuerst den bestehenden integrierten Klimaschutzplan von 2017 aus wissenschaftlicher Perspektive. Dabei bewerten wir, inwieweit die dort formulierten Ziele im Hinblick darauf, was nach wissenschaftlichem Konsens zumindest notwendig wäre, um den hessischen Anteil des Pariser Klimaabkommens zu erfüllen. Weiter bewerten wir die im Klimaschutzplan formulierten Maßnahmen im Hinblick auf ihren Beitrag zur Zielerreichung. Darauf aufbauend geben wir fundierte Vorschläge für weitere effektive Maßnahmen zu Klimaschutz und Klimaanpassung, dazu wie ein zukünftiger Beteiligungsprozess gestaltet werden könnte und wie wirkungsvolle Maßnahmen zukünftig umgesetzt werden können. Wir begrüßen sehr, dass das Land Hessen seiner Verpflichtung zum Klimaschutz als Folge des Pariser Klimaschutzabkommens von 2015 nachkommen will und 2017 einen ersten integrierten Klimaschutzplan vorgelegt hat (iKSP 2017). Der iKSP (2017) formuliert zutreffend, dass der Klimawandel eine der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit ist. Wir sehen unsere Aufgabe darin, das Land dabei zu unterstützen, diese schwierige Herausforderung für die Menschen in Hessen tatkräftig anzugehen und erfolgreich zu lösen. Die Kommunikation von Klimawandel und Klimafolgen in Hessen: Leider wird im iKSP (2017) nicht klar oder wissenschaftlich belastbar formuliert, welche Risiken und Gefährdungen für Hessen und für die Lebensbedingungen in Hessen mit dem sich hier schnell ändernden Klima absehbar in den nächsten Jahren auftreten werden. Es entsteht dadurch auch der Eindruck, dass die Landesregierung im Jahr 2017 die Gefahr des Klimawandels für Menschen, Gemeinschaften und Wirtschaft in Hessen noch keine ausreichende Bedeutung beigemessen hat. Umso mehr freut uns, dass konkrete Handlungen der Landesregierung in den letzten Jahren zeigen, dass sich dieses Verständnis wandelt. Im iKSP (2017) sind Maßnahmen formuliert, durch die die zukünftig für viele Sektoren und Bereiche essentiellen Wetterdaten und Klimaprognosen zur Verfügung gestellt werden sollen. Bisher ist nicht vorgesehen, diese zentral, z.B. über HLNUG und die iKSP-Webseite zugänglich zu machen. Wir schlagen dringend vor, ein zentrales ressortübergreifendes hessisches Portal zum Klimawandel aufzubauen, in dem alle relevanten aktuellen Informationen bereitgestellt werden. Klimaziele und Relevanz des Klimawandels für die Landesregierung: Die im iKSP (2017) formulierten Ziele sind nicht ausreichend, um die Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen zu erfüllen. Ziele und Maßnahmen sind zumeist weich formuliert, es fehlen fast durchgängig klare und messbare Kriterien für Ziele und Maßnahmen. Wir legen dem Land dringend nahe, mit klar messbaren quantitativen Zielen und zeitnaher Bewertung von Fortschritten zu arbeiten, da nur so zu erkennen ist, ob Klimaziele und formulierte Maßnahmen erfolgreich verfolgt werden. Der iKSP (2017) ordnet im Vorwort den Klimawandel dem Begriff „Ökologie“ zu. Dies ist aus wissenschaftlicher Sicht extrem fragwürdig. Im Weiteren erweckt der iKSP (2017) den Eindruck, dass die so definierte „Ökologie“ sich aus Sicht der Landesregierung letztendlich der „Ökonomie“ unterordne. Damit entsteht der Eindruck, dass die Grundlage des menschlichen Lebens (z.B. Nahrung, Wasser, Luft, Heimat, Schutz vor den Elementen) der Bürger:innen Hessen weniger wert seien als die aktuellen Gewinnerwartungen von Unternehmen. Wir erwarten, dass Gesundheit und Leben hessischer Bürger:innen sowie ihre Daseinsvorsorge als zentrale Aufgabe der Landesregierung formuliert werden und diese eindeutig bei der Abwägung von Rechtsgütern an erster Stelle stehen. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 2 Der iKSP nimmt an keiner prominenten Stelle explizit Bezug auf soziale Aspekte oder die Grundlagen einer Daseinsvorsorge. Erst in Textpassagen, die in nachgeordneten Behörden auf der Fachebene formuliert wurden, sind diese Aspekte greifbar vorhanden. Im politischen Teil fokussiert sich der Blickwinkel des iKSP auf das Wachstumsnarrativ. Im politischen Teil des iKSP verzichtet die Landesregierung explizit auf eigene Gestaltung: Klimaschutz und Klimaanpassung seien vorrangig freiwillig und von Kommunen und Wirtschaft zu betreiben, heißt es im Text. Diese Haltung gilt wissenschaftlich als unhaltbar und gefährdet direkt alle Güter, für deren Schutz die Landesregierung verantwortlich ist – insbesondere auch die Wirtschaft hier in Hessen. Unsere Analyse zeigt detailliert, an welchen Punkten der gesetzte politische Rahmen im iKSP den notwenigen Anforderungen durch den Klimawandel nicht gerecht wird. Wir möchten die Landesregierung dringend ermutigen, die eigenen Möglichkeiten voll auszuschöpfen, um die Klimapolitik in Hessen proaktiv zu gestalten: Der Erhalt der Daseinsvorsorge, der Schutz der Menschen, die Klimaanpassung in Gemeinden und Städten, eine schnelle Energiewende, die den lokalen Energiebedarf im Fokus hat, dies alles sind proaktive, mittelfristig notwendige und effektive Möglichkeiten, Hessen als lebenswertes Land zu erhalten und die Wirtschaftskraft Hessens zu erhalten – anders als der im iKSP präsentierte Fokus auf unverbindliche freiwillige Handlungen. Maßnahmen zum Klimaschutz Die dargestellten Maßnahmen zum Klimaschutz sind zu gering, zu wenige, zu spät angesetzt, um alleine oder in Summe einen relevanten Beitrag leisten zu können. Dieser im besten Falle zögerliche Klimaschutz wird unweigerlich zu immer weiter fortschreitendem anthropogenem Klimawandel und damit einhergehenden immer weitreichenderen Auswirkungen und Schäden global und hier in Hessen führen. Die Wirksamkeit von Klimaschutzmaßnahmen wird durch die Gesamtmenge an ausgestoßenen Treibhausgasen bestimmt (CO2-Budget). Im iKSP (2017) werden Zahlen zu hessischen Pro-Kopf Emissionen dargestellt, die den gängigen Erhebungs-Standards widersprechen und nicht die tatsächlichen Emissionen beschreiben. Durch das verwendete Territorialprinzip ist jede De-Industrialisierung hier in Hessen ein Nutzen für diese Kennzahl, ohne dass dies zu einer Reduktion der hessischen CO2-Emissionen selber führt. Wir sehen dies als verfehlte Zielführung an: Die Bewertung von Emissionen sollte alle importierten Emissionen mit einbeziehen. Maßnahmen sollten der hiesigen Industrie und anderen Sektoren helfen, schnell ihre Emissionen abzubauen. Hessen benötigt auch in Zukunft eine breite industrielle Basis. Maßnahmen zur Dekarbonisierung der Industrie hier in Hessen werden reale Emissionsminderungen erzeugen und den Wirtschaftsstandort Hessen real stärken. Um schwerwiegende langfristige Schäden im Land Hessen zu vermeiden, muss sichergestellt werden, dass die Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C begrenzt wird. Dazu müssen gemäß dem verbleibenden Restbudget die Treibhausgasemissionen auf netto Null gesenkt werden. Geht man aktuell von einer linearen Reduktion der Emissionen aus, muss netto Null in den 2030er Jahren erzielt werden. Werden jedoch keine ausreichenden Klimaschutzmaßnahmen umgesetzt, die Treibhausgasemissionen also nicht ausreichend reduziert, wird das Restbudget bereits zu einem früheren Zeitpunkt aufgebraucht sein. Notwendige tiefgehende Maßnahmen müssen also jetzt mit großer Dringlichkeit ergriffen werden. Wir schlagen daher hier viele weitere schnell wirksame und wissenschaftlich begründete Maßnahmen vor. Maßnahmen zur Klimaanpassung Wie die Dürrejahre 2018 bis 2020 gezeigt haben, sind die Auswirkungen des Klimawandels hier in Hessen direkt spürbar. Es geht also nicht mehr um mögliche, weit in der Zukunft liegende Ereignisse, sondern um konkrete Handlungen heute. Die im iKSP (2017) enthaltenen Maßnahmen zur Klimaanpassung sind zu wenige, sie sind eher theoretischer Natur, sie antizipieren viele relevante Veränderungen nicht oder zu spät. Der Maßnahmenkatalog sollte zumindest die heute absehbaren Veränderungen vorbereitend abmildern, also jetzt beginnen zu greifen. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 3 Land- und Forstwirtschaft benötigen dringend Unterstützung bei ihrer zukünftig immer neuen Anpassung an ein sich immer weiter veränderndes Klima. Land- und Forstwirtschaft sollten dringend in ihrer Fähigkeit gestärkt werden, die Bevölkerung in Hessen zu versorgen, wobei ihre Umweltauswirkungen und Emissionen von Treibhausgasen zugleich verringert werden müssen. Dies zu ermöglichen verlangt eine aktive und engagierte Rolle des Landes; diese Rolle geht weit über die Bereitstellung adäquater Informationen zu Wetter und Klima der folgenden Jahre hinaus und sollte Aktivitäten im Bereich der Bereitstellung von Saatgut, dem Ermöglichen von benötigtem Landschaftsumbau umfassen. Die natürlichen oder naturnahen Systeme in Hessen werden sich zukünftig schnell verändern. Relevante notwendige Maßnahmen umfassen das Management von Feuergefahr und das Entfernen von unnötigen Barrieren, um die notwendigen direkten Wanderungsbewegungen von Tieren sowie die indirekten von Pflanzen zu ermöglichen. Städte und Gemeinden müssen schnell an Sommerhitze und andere neue Risiken angepasst werden. Dazu müssten Planungswerkzeuge und Planungsregeln so angepasst werden, dass die Entwicklung hin zu versiegelten und vegetationsarmen Städten umgekehrt wird. Die Nutzung von Flächen in Städten und Gemeinden müsste dringend neu verteilt werden, auch um die technischen Voraussetzungen für Klimaanpassung und Resilienz zu schaffen. Weiteres Vorgehen: Der iKSP (2017) stellt sich als ausgesprochen träges und in der ersten Ausgabe ungenügendes Vorgehen dar, sich dem Thema Klimawandel hier in Hessen zu stellen. Wir legen der Landesregierung dringend nahe, ihrer Verantwortung für die Menschen in Hessen nachzukommen und zumindest das Notwendige im Hinblick auf Klimaschutz (Dekarbonisierung) und Klimaanpassung (sichern der Daseinsgrundlagen) zu beginnen. Um wirksamen und an den Zielen von Paris ausgerichteten Klimaschutz im Plan zu verankern, sind aus unserer Sicht nötig: Vollständige Berücksichtigung der hessischen Treibhausgas-Emissionen, d.h. unter Einbeziehung von allen Importen und Exporten und dem Luftverkehr. SMARTe quantifizierte Ziele, die am verbleibenden CO2-Budget ausgerichtet sind (SMART bedeutet, dass Ziele im Hinblick auf tatsächliches Erreichen formuliert und definiert werden: Sie sind dann spezifisch, messbar, akzeptiert, realistisch, terminiert). Die Bereitstellung von Daten und Kennzahlen mit denen der Stand von Maßnahmen und ggf. die Zielerreichung gemessen werden können (z.B. über das HLNUG und eine zentrale Klima-Webseite). Engmaschige, also mindestens jährliche und möglichst unabhängige Überprüfung der Zielerreichung; Kommunikation über Maßnahmen, auch wenn diese ihre Ziele nicht erreichen – um ein gemeinsames Lernen zu ermöglichen und Hindernisse zu erkennen. Erstellen von transparenten und global abgestimmte Prognosen über die regionalen Folgen des Klimawandels. Beauftragung von aktuellen regionalen Klimaprognosen, wo notwendig. Aufbereitung der aktuellen Daten für besonders vulnerable Sektoren (z.B. Land- und Forstwirtschaft, Industrie, Schifffahrt, Bewohner:innen). Ermöglichen und Fördern der regionalen Energiewende als wichtigste Grundlage für die Dekarbonisierung aller Sektoren, z.B. in die nicht fossilen Energieformen zumindest zu gleichen Wettbewerbsbedingungen wie fossile bereitgestellt werden. Eine aktive handelnde Rolle der Landesregierung (i) in der Regulierung in ihrem Zuständigkeits- bereich (Landesgesetze und –Verordnungen, Landesplanung), (ii) in eigenen Institutionen des Landes (Vorbildfunktion und Wegbereiter), (iii) durch Investitionen und Förderprogramme. Eine aktive handelnde Rolle der Landesregierung auf Bundes- und EU-Ebene, um dort den Rahmen zum schnellen Ermöglichen von Energiewende, Klimaschutz und Klimaanpassung zu gestalten. Verankerung eines Klimavorbehalts für alle weitreichenden Entscheidungen des Landes in allen Bereichen und die Überprüfung früherer Entscheidungen auf Kompatibilität mit Zielen des Klimaschutzes und der Klimaanpassung. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 4 Finden eines neuen Narrativs für die Regierungsarbeit in Hessen: Wirtschaftswachstum um jeden Preis ist aus wissenschaftlicher Sicht unhaltbar. Unser Vorschlag ist es, z.B. das psychische und physische Wohlbefinden der Bevölkerung hier in Hessen, die Bewahrung der Lebensgrundlagen für alle, eine friedliche und resiliente Gesellschaft hier in Hessen, oder ein gutes Leben für alle als zentrale Bewertungsmaßstäbe zu etablieren. Etablieren von Wirtschaftsformen in Hessen, die einen möglichst starkes Rückgrat aus zirkulären Elementen besitzen (Circular Economy, Kreislaufwirtschaft), wobei diese möglichst mit lokalen Netzwerken arbeiten. Dieses Ziel benötigt eine Stärkung von vielen Industriebereichen, insbesondere jedoch die Stärkung von Grundstoff-Industrie und verarbeitender Industrie, da nur so Stoffkreisläufe regional geschlossen werden können. Diese Maßnahmen und Prozesse können im Rahmen eines alle fünf Jahre fortgeschriebenen Maßnahmenkatalogs nicht sinnvoll realisiert werden. Wir empfehlen daher dringend, Klimaschutz und Klimaanpassung als zentrale, ressortübergreifende, stetig ablaufende Prozesse hoher Sichtbarkeit und hoher Umsetzungsgeschwindigkeit im Kern der hessischen Regierungstätigkeit zu verankern. Gleichzeitig sollten die Maßnahmen in einem dynamischen Portal zusammen mit allen wichtigen Informationen abgebildet werden. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 5 Inhalt 1 Zusammenfassung ..................................................................................................................................... 2 2 Unsere Ziele ............................................................................................................................................... 8 2.1 Motivation ......................................................................................................................................... 8 2.2 Wissenschaftliche Methode und Perspektive ................................................................................. 10 2.3 Aufbau dieses Dokuments ............................................................................................................... 10 2.4 Wichtige Erkenntnisse ..................................................................................................................... 10 3 Die Annahmen des iKSP (2017) ............................................................................................................... 13 3.1 Vorgehen ......................................................................................................................................... 13 3.2 Explizite Annahmen im IKSP (2017) ................................................................................................. 13 3.3 Implizite Annahmen im iKSP (2017) ................................................................................................ 19 3.4 Bewertung der Annahmen aus wissenschaftlicher Perspektive ..................................................... 20 Allgemeine Punkte ................................................................................................................... 20 Annahmen zu den Randbedingungen ..................................................................................... 21 Annahmen, die Regularien oder das politische System Hessens abbilden. ............................ 22 Annahmen zur Dynamik und zur Relevanz des Klimawandels. ............................................... 22 Annahmen zum Wirtschaftswachstum und das Wachstumsnarrativ. .................................... 23 Annahmen zur Rolle der Politik ............................................................................................... 25 Gestaltungsansätze und Wohlstandsbewahrung .................................................................... 27 3.5 Ausblick ............................................................................................................................................ 29 4 Bedeutung des globalen Klimawandels für Hessen................................................................................. 30 4.1 Klimaprojektionen ........................................................................................................................... 30 4.2 Wie belastbar sind die Klimaprojektionen? .................................................................................... 30 4.3 Auswirkung des Klimawandels auf die Vegetation in Hessen ......................................................... 33 4.4 Land- und Forstwirtschaft ............................................................................................................... 34 4.5 Gesundheit ...................................................................................................................................... 37 4.6 Globale Effekte ................................................................................................................................ 38 4.7 Ausblick auf Risiken ......................................................................................................................... 39 5 Gesetzte Ziele im iKSP (2017) .................................................................................................................. 40 5.1 Bewertung ....................................................................................................................................... 40 5.2 Ausblick ............................................................................................................................................ 41 6 Vorgehen ................................................................................................................................................. 42 7 Maßnahmen zur THG-Reduktion ............................................................................................................. 43 7.1 Bewertung ....................................................................................................................................... 43 7.2 Weitere Maßnahmen ...................................................................................................................... 44 Energieerzeugung und -umwandlung ..................................................................................... 45 Wärmeversorgung ................................................................................................................... 47 Verkehr .................................................................................................................................... 48 Industrie sowie Gewerbe, Handel und Dienstleistungen (IGHD) ............................................ 50 Landnutzung (Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Landnutzungsveränderungen) ..................... 51 S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 6 Privathaushalte und Wohngebäude ........................................................................................ 52 Abfall und Abwasser ................................................................................................................ 54 7.3 Ausblick – Wasserstoff-Strategie ..................................................................................................... 54 7.4 Treibhausgase Abscheiden oder Kompensieren ............................................................................. 55 Abscheiden und Entfernen von Treibhausgasen ..................................................................... 55 Kompensation .......................................................................................................................... 56 8 Maßnahmen zur Klimaanpassung ........................................................................................................... 57 Klimaanpassung im Bereich Energie ........................................................................................ 57 Klimaanpassung im Bereich Wirtschaft ................................................................................... 58 Klimaanpassung im Bereich Verkehr ....................................................................................... 58 Klimaanpassung im Bereich Kultur, Sport, Freizeit.................................................................. 58 Klimaanpassung im Bereich Gesundheit und Bevölkerungsschutz ......................................... 59 Klimaanpassung im Bereich Gebäude ..................................................................................... 60 Klimaanpassung im Bereich Wasserhaushalt, Hochwasser, Wasserwirtschaft ...................... 60 Klimaanpassung im Bereich Land-und Forstwirtschaft, Biodiversität ..................................... 61 8.2 Zusammenfassende Bewertung ...................................................................................................... 62 8.3 Maßnahmen .................................................................................................................................... 63 S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 7 2 Unsere Ziele 2.1 Motivation Die hessische Landesregierung hat einen ersten integrierten Klimaschutzplan (iKSP) im Jahr 2017 10 veröffentlicht . Dieser Plan soll jetzt weiterentwickelt und fortgeschrieben werden. Seit der Veröffentlichung des iKSP (2017), auf den wir uns hier beziehen, ist im Bereich Klimaschutz ausgesprochen viel passiert, auch hier in Hessen. Der iKSP (2017) bildet also einen Stand ab, der so nicht mehr in allen Bereichen aktuell ist. Auch die Politik der Landesregierung hat sich seitdem verändert. Es ist uns trotzdem ein wichtiges Anliegen gewesen, ihn als Ausgangspunkt zu verwenden, da er für die Zeit bis 2025 formuliert wurde und da wichtige dort benannte Akteure, insbesondere die seinerzeitige Landesregierung selber, weiter handeln. Ziel dieses Dokumentes ist es, eine wissenschaftlich basierte Analyse des iKSP (2017) zu dokumentieren und 11 die dort verwendeten Maßnahmen aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu bewerten. Hierzu haben Experten aller hessischen Regionalgruppen der Scientists for Future (S4F) beigetragen und das Dokument 12 wurde im Konsensprinzip entwickelt . Die wesentlichen Fragen die uns dabei leiten, sind: Welche Annahmen liegen dem Bericht zu Grunde? Welche Narrative und Frames werden implizit oder explizit verwendet? Sind diese Annahmen heute noch so belastbar? Wie beeinflussen die verwendeten Narrative und Frames das Ergebnis? Unterstützen diese eine 13 geeignete Auseinandersetzung wichtiger Akteure mit dem Klimawandel ? Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse liegen dem Bericht zu Grunde? Haben diese wissenschaftlichen Erkenntnisse im Veröffentlichungsjahr (2017) den damals aktuellen Stand des Wissens in ausreichender Form dargestellt? Können die dort enthaltenen Erkenntnisse für die Fortschreibung des Berichtes verwendet werden? Werden Risiko und Gefährdung der Bevölkerung in Hessen angemessen im Hinblick auf wissenschaftliche Erkenntnisse dargestellt? Sind die in dem Bericht definierten Maßnahmen zur Minderung von Treibhausgas-Emissionen ausreichend, um regionale, nationale und internationale Regularien, Vereinbarungen und Ziele zu erreichen? Sind die in dem Bericht definierten Maßnahmen zur Klimaanpassung geeignet und ausreichend, um die Bevölkerung und Wirtschaft im Land Hessen in ausreichendem Maße auf Klimaänderungen vorzubereiten? Ist die Zuordnung der Verantwortung für konkrete Handlungen passend? Ist der geplante Prozess und der zeitliche Rahmen für eine Weiterentwicklung des Umganges des Landes mit dem Klimawandel angemessen? Ist eine Fortschrittskontrolle vorgesehen, die ein rechtzeitiges Nachsteuern ermöglicht, wenn Ziele verfehlt zu werden drohen? 10 https://www.hlnug.de/themen/klimawandel-und-anpassung, sowie https://www.hessen.de/pressearchiv/pressemitteilung/hessische-landesregierung-beschliesst-integrierten-klimaschutzplan-0 11 Hierbei verstehen wir Wissenschaft bewusst breit. Neben den „Sciences“, also Natur- und Ingenieurwissenschaften, gehören für uns unabdingbar gesellschaftswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Perspektiven gleichberechtigt zu den Wissenschaften und ihre Methoden und Erkenntnisse sind notwendig, um boshafte Probleme (s.u.) greifbar zu machen. 12 Methodisch in Analogie zu dem Vorgehen von ISO und IEC, siehe ISO/IEC DIR 1 und ISO/IEC DIR 2 https://www.iec.ch/members_experts/refdocs/ . 13 Wir verwenden den Begriff Klimawandel, denn (i) er wird im iKSP (2017) verwendet und wir beziehen uns auf diesen, (ii) es ist er eingeführte Begriff, (iii) anders als „Klimakrise“ oder „Klimakatastrophe“ wird Klimawandel dem Prozess gerecht: Krisen und Katastrophen sind einmalige Ereignisse mit einem klaren Ende; der Klimawandel wird das System Erde etwa die nächsten 100.000 Jahre beeinflussen, also länger, als übliche menschliche Krisen. Als Diskussion z.B. Paglia E (2015) Not a proper crisis. The Anthropocene Review 2: 247-261, https://doi.org/10.1177/2053019615604867. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 8 14 Hierbei geht es darum, den wissenschaftlichen Konsens als Maßstab anzusetzen . Wir als Regionalgruppen der S4F in Hessen wollen die Landesregierung dabei unterstützen, beherzt das Notwendige zu tun, um die 15 THG-Emissionen Hessens entsprechend der bindenden Vereinbarung des Pariser Klimaabkommens (COP 21) zu reduzieren und um das Land Hessen, seine Bewohner:innen und seine Wirtschaft möglichst gut vor den Auswirkungen des jetzt schnell in seinen Auswirkungen fühlbarer und destruktiver werdenden 16 Klimawandels zu schützen . Damit ist unser Ziel, konstruktiv aus der Sicht der Wissenschaften zu wirken und gleichzeitig darauf zu drängen, wissenschaftliche Erkenntnisse und Evidenz als wesentliche Grundlage einer zukunftsorientierten Politik zu nutzen. Diese Bewertung ist sicher weder vollständig noch abschließend: Beides wäre in dem angelegten Prozess und mit Blick auf den hoch-dynamische Klimawandel hier in Hessen wenig sinnvoll. Vielmehr soll durch diese Bewertung der Prozess der Landesregierung aufgewertet und unterstützt werden. Aus der Perspektive der S4F bedeutet dies, ganz konkret den aktuellen wissenschaftlichen Konsens darzustellen und in diesen Prozess einzubringen. Umgekehrt wird das gemeinsame Ringen von allen gesellschaftlichen Akteuren mit diesen 17 „super boshaften“ Problemen auch die wissenschaftliche Perspektive bereichern. 14 https://www.scientists4future.org/about/charta/ 15 Nach welchen Kriterien dies zu bestimmen ist, wird zu diskutieren sein. 16 Zum Klimawandel selbst: IPCC Fifth Assessment Report (AR5), https://www.ipcc.ch/report/ar5/syr/ sowie Hagedorn G, Loew T, Seneviratne SI et al. (2019) The concerns of the young protesters are justified. A statement by Scientists for Future concerning the protests for more climate protection. GAIA 28: 79– 87, https://doi.org/10.14512/gaia.28.2.3 17 Die Definition des Begriffes “super boshafte Probleme” baut auf der Definition „boshafter Probleme“ auf. „Wicked Problems“ nach Rittel HWJ, Webber MM (1973) Dilemmas in a General Theory of Planning. Policy Sciences 4: 155-169, ttps://doi.org/10.1007/BF01405730 sind durch zehn zusammenhängende Eigenschaften gekennzeichnet: 1) Es gibt keine vollständige oder richtige Beschreibung des Problems – die Beschreibung ist erst Teil der Lösung, da die Lösung selber eine bestimmte Definition des Handlungsrahmens, der Akteure usw. enthält. 2) Es gibt kein eindeutiges Kriterium, wann die Lösung erreicht ist – die Lösung ist häufig der Zustand, der nach einem gewissen Aufwand eingenommen wird und der nun nach Erschöpfen der bereitgestellten Ressourcen für die Lösungsfindung umgesetzt wird. 3) Lösungen sind weder richtig noch falsch, sie sind gut oder schlecht; meist sind sie besser oder schlechter – Kriterien für gut und schlecht entstehen häufig aus einem moralischen Rahmen heraus. 4) Es gibt keine eindeutige Bewertung dafür, wie gut eine Lösung ist – bei zahmen Problemen kann man eine Abweichung von der idealen Lösung bestimmen und so einzelne Lösungsvorschläge klassifizieren. Bei boshaften Problemen kann man erst im Nachhinein erkennen, welche Folgen die Lösung hat, da die Auswirkungen sich in komplexer Form durch das gesamte beeinflusste System ausbreiten. Häufig kann man die umgesetzte Lösung nicht mit anderen Lösungsvorschlägen vergleichen. 5) Jede Umsetzung zählt bereits voll; es gibt keine Möglichkeit sich durch ‚Trial and Error‘ der Lösung anzunähern – jede umgesetzte Lösung oder Maßnahme hinterlässt Spuren in der Welt, die nicht wieder rückgängig zu machen sind und die jeden nächsten Versuch beeinflussen und verfälschen. 6) Es gibt keine abzählbare oder vollständig beschreibbare Menge an potentiellen Lösungen; es gibt keine gut beschreibbare Menge an Operationen, mit denen eine Lösung erreicht wird. 7) Jedes boshafte Problem ist einzigartig; es gibt keine Klassen von ähnlichen oder ähnlich lösbaren boshaften Problemen. 8) Jedes boshafte Problem kann als das Symptom eines anderen boshaften Problems angesehen werden – daraus folgt, dass die Verbesserung eines Problems Schwierigkeiten erzeugt, das nächste anzugehen. 9) Beschreibt man ein boshaftes Problem als eine Abweichung von einem angestrebten anderen Zustand, dann legt man dadurch schon Lösungswege fest oder schließt mögliche Lösungswege aus – allein durch die Formulierung („framing“) des Problems. 10) Fehler bei der Lösung können oft nicht toleriert werden, da sie direkte Auswirkung auf die Umstände und das Leben von Menschen haben – die Lösenden tragen eine hohe Verantwortung, dass ihre Lösung funktioniert. „Super wicked problems“ sind gegenüber „wicked problems“ nach Levin L, Cashore L, Bernstein S, Auld G (2012): Overcoming the tragedy of super wicked problems: constraining our future selves to ameliorate global climate change. Policy sciences 45: 123-152, https://doi.org/10.1007/s11077-012-9151-0 zusätzlich gekennzeichnet durch: 11) Die Zeit läuft weg. Abwarten ist bereits eine Entscheidung und zumeist eine, die jeder geordneten Lösung zuwiderläuft: Durch Abwarten wird das ursprüngliche Problem größer und bedrohlicher. 12) Die Verursacher des Problems suchen selbst nach einer Lösung. Dies insbesondere, wenn jeder ein Teil des Problems ist, oder wenn insbesondere die wohlhabenden und gut ausgebildeten zu dem Problem beitragen. Gleichzeitig behindert dies schnelle Reaktionen. 13) Es gibt keine zentrale (globale) Autorität. Es fehlt eine gemeinsame Weltregierung, die mit Autorität Entscheidungen durchsetzt. Freiwilliges ethisches Handeln wird benötigt. 14) Als Ergebnis dieser ersten drei Aspekte schreibt Politik die Zukunft ab. "Partly as a result, policy responses discount the future irrationally". Wir verwenden die Übersetzung “boshaft” für „wicked“, da diese geeignet den Charakter von Problemen transportiert. Alternativen, wie „verzwickt“ sind auch auf Aufgaben (in der Definition der VDI 2221-1) anwendbar. „Wicked“ und „boshaft“ transportieren hier eine starke Ambivalenz, ein hohes Maß an Tiefgründigkeit aber auch an Verlorenheit im Umgang mit solchen Problemen, die kein S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 9 2.2 Wissenschaftliche Methode und Perspektive Als S4F fühlen wir uns den ‚Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis‘, wie sie von der Deutschen 18 Forschungsgemeinschaft (DFG) formuliert wurden, verpflichtet und haben sie auch hier genutzt. 2.3 Aufbau dieses Dokuments Das iKSP (2017) ist ein komplexes Dokument mit mehreren Ebenen, die jeweils einzeln analysiert werden. Daher widmet sich jedes der folgenden Kapitel einem dieser großen Aspekte und fasst Analyse und Bewertung jeweils zusammen, bevor allgemeine Schlussfolgerungen und Empfehlungen entwickelt werden. Damit bleiben einzelne dieser Aspekte im Zusammenhang und sind einfacher zu verfolgen. Dieses Dokument ist selber kein Forderungskatalog, es enthält jedoch eine Vielzahl von wissenschaftlich abgesicherten Handlungsoptionen und Anregungen für konkrete Maßnahmen, die weiter ausgearbeitet schnell und konkret umgesetzt werden können, um die Ziele des Klimaschutzes und der Klimaanpassung Hessens zu erreichen. 2.4 Wichtige Erkenntnisse Der Integrierte Klimaschutzplan Hessen konstatiert einleitend, dass „der Klimawandel ... eine der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit [ist]. Denn er betrifft jede und jeden von uns und hat Einfluss auf alle Lebensbereiche: sei es unsere Umwelt, unsere Wirtschaft, unsere Gesundheit oder unsere Art zu leben“. Diese Aussage ist durch den Stand der Wissenschaft gut belegt und lässt sich konkreter formulieren: Sofern die von uns Menschen gemachte Erderwärmung nicht durch uns gestoppt oder massiv gebremst wird, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einem Temperaturanstieg der mittleren Oberflächentemperatur auf der Erde von über 4 °C zu rechnen. Über Landmassen, damit auch in Hessen, fällt dieser Anstieg aus physikalischen Gründen deutlich höher aus. Hinzu kommt, dass ab einer Erwärmung von etwa 2 °C mit zusätzlichen, den Klimawandel verstärkenden Effekten im System Erde zu rechnen ist 19 (Kippelemente) , deren Auswirkungen gravierend sein können, deren Zeitpunkt des Eintretens und Wirkung aber bislang nur abgeschätzt werden können. Eine Erwärmung in diesem Maß lässt sich nur verhindern, wenn die weltweit emittierte Gesamtmenge an allen relevanten Treibhausgasen und insbesondere CO2 absolut begrenzt wird (CO2-Budget), da CO2, 20 gemessen an menschlicher Lebenszeit extrem lange in der Atmosphäre erhalten bleibt . Das bedeutet, dass mit jedem Jahr, in dem CO2 emittiert wird, das noch verfügbare CO2-Budget abnimmt und damit die Emissionen in zukünftigen Jahren entsprechend schneller gesenkt werden müssen oder die Erderwärmung zunehmen wird. Das bedeutet auch, dass zur Einhaltung der Klimaschutzziele von Paris (also einer Begrenzung der Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C) bereits aus heutiger Sicht je nach Minderungsszenario die Netto-Emissionen bis spätestens Mitte der 2030er Jahre auf null reduziert werden müssen, siehe Abbildung 1. Da bis heute (Anfang 2021) keine klare Minderung erkennbar ist – die Rate der CO2 Anreicherung in der Atmosphäre ist sogar um 7 % gestiegen, wie die Abbildung 2 zeigt – ist der notwendige Minderungspfad entsprechend steiler anzusetzen. einfaches Ende und keinen freundlichen Umgang zeigen. Dies ist gerade das Kennzeichen des Klimawandels und der damit verbundenen aufziehenden Bedrohungen. 18 DFG (2019) Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, Kodex. https://doi.org/10.5281/zenodo.3923602). 19 Zu Kipppunkten konkret: Lenton, TM, Held H, Kriegler E et al. (2008) Tipping elements in the Earth's climate system. Proceedings of the National Academy of Sciences 105: 1786-1793, https://doi.org/10.1073/pnas.0705414105. Sowie Lenton TM, Rockström J, Gaffney O et al. (2019) Climate tipping points — too risky to bet against. Nature, 575: 592-595, https://doi.org/10.1038/d41586-019- 03595-0. 20 Während Methan nach wenigen Jahrzehnten zu Kohlendioxid (CO2) wird und Kohlendioxid nach etwa 200.000 Jahren das dynamische System Erde wieder verlassen hat (Archer D (2009) The Long Thaw. How Humans are Changing the Next 100.000 Years of Earth’s Climate. Princeton University Press), sind einige andere Treibhausgase eher für sehr lange Zeiträume relevant, wie SF6, NF3, CF4, C2F6, oder viele Kältemittel wie R134a. Lachgas (N2O) nimmt hier eher eine kurzfristige Rolle ein. Wir können also hoffen, dass einige Treibhausgase in für Homo Sapiens noch relevanten Zeiträumen wieder auf für unsere Spezies angenehme Konzentrationen absinken, während andere für uns für immer dableiben. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 10 21 Abbildung 1 – Emissionsreduktion gemäß nationaler Klimaziele bzw. Paris-kompatiblem Budget für Deutschland . 22 Abbildung 2 – Kein Einfluss des COP-21 / Paris Abkommens auf die Emission von Kohlendioxid feststellbar . Der Klimawandel stellt eine Bedrohung unserer Lebensgrundlage dar. Er wird sich insbesondere ohne eine deutliche Verstärkung der derzeitigen Klimaschutzmaßnahmen (also in einem „business as usual“-Szenario, 23 bei dem Maßnahmen kaum oder zu spät ergriffen werden ) massiv auf Menschen, Wirtschaft und Gesellschaft auswirken. Der iKSP (2017) geht bereits von der Notwendigkeit umfangreicher Klimaanpassungsmaßnahmen in Hessen aus. Diese Anpassungsmaßnahmen werden hohe Kosten verursachen, wobei diese Kosten absehbar deutlich überproportional zur Temperaturänderung der Erderwärmung global, bzw. konkret hier in Hessen steigen werden. 21 Sachverständigenrat für Umweltfragen (2020) Für eine entschlossene Umweltpolitik in Deutschland und Europa. https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/01_Umweltgutachten/2016_2020/2020_Umweltgutachten_Entschlossene _Umweltpolitik.html 22 Monatlich gemittelte CO2-Konzentrationen des Mauna Loa Observatorium in Hawaii, Daten aus https://www.esrl.noaa.gov/gmd/ccgg/trends/data.html 23 Dieser Ansatz wird z.B. auch als evolutionäre Entwicklung hin zu mehr Klimaschutz beschrieben. Siehe auch Conway NM, Oreskes N (2012) Merchants of Doubt. How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues from Tobacco Smoke to Global Warming. Bloomsbury. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 11 Die im Klimaschutzplan aufgeführten Maßnahmen könnten alle einen Beitrag leisten; sie werden zumeist eher langfristig wirksam sein. Die meisten Maßnahmen sind jedoch wenig verbindlich und nicht überprüfbar 24 formuliert . Sie sind aus wissenschaftlicher Sicht völlig unzureichend, um die auf allen Ebenen bis hinunter zum Land Hessen formulierten Klimaschutzziele – auch die im iKSP (2017) formulierten Ziele – zu erreichen. Zugleich wird im Klimaschutzplan das Primat eines unbegrenzten Wirtschaftswachstums postuliert, welches für den Erhalt des „Wohlstands“ erforderlich sei. Weder wird eine Begründung für diese normative Annahme geliefert, noch wird genauer definiert, was genau unter den dort wichtigen Begriffen „Wirtschaft“ oder „Wohlstand“ verstanden wird. Es wird implizit unterstellt, das Klimaschutzmaßnahmen volkswirtschaftliche Kosten verursachen, demgegenüber Maßnahmen zur Klimaanpassung für die Gesellschaft günstiger seien. Diese Annahme ist aus wissenschaftlicher Sicht zumindest stark diskussionswürdig, hat jedoch weitreichende 25 Konsequenzen für das Handeln der Regierung, wie sie im iKSP (2017) dokumentiert . Der implizit im Klimaschutzplan formulierte Primat des Wirtschaftswachstums führt dazu, dass die negativen Folgen des Klimawandels (die auf die gesamte Bevölkerung und auf den Wohlstand wirken) dem Wirtschafts- wachstum gegenüber zurückstehen müssen (ohne dies in irgendeiner Form zu belegen oder auch nur zu begründen) sowie die in der hessischen Verfassung formulierten Staatsziele „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“ (§26b) und „Nachhaltigkeit“ (§26c) dem Wirtschaftswachstum gegenüber zurückstehen müssen (was ebenfalls nicht begründet wird). Die Folgekosten des Klimawandels werden deutlich höher sein, als heute notwendigen Aufwände für die Einschränkung des Klimawandels. Somit ist selbst aus wirtschaftlichen Gründen zumindest langfristig das rasche Handeln vorzuziehen. Soziale Auswirkungen des Klimawandels insbesondere dadurch, dass unterschiedliche soziale Schichten der Bevölkerung in sehr unterschiedlicher Weise von den Folgen des Klimawandels betroffen sind, werden nicht thematisiert. Als Scientists for Future (S4F) in Hessen appellieren wir deshalb ausdrücklich und dringlich an die Landesregierung, die Herausforderungen des Klimawandels ernst zu nehmen, wirksame Maßnahmen festzulegen, ihre Umsetzung sicherzustellen, die Wirksamkeit regelmäßig und verbindlich zu überprüfen und die Konsequenzen staatlichen Handelns stets auf die Folgen für den Klimawandel zu kontrollieren. Eine gesellschaftliche Diskussion über die Postulate des politischen Handelns, insbesondere die Frage von Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Wohlergehen, Gerechtigkeit und damit auch allen Aspekten der Nachhaltigkeit regen wir dringend an, wissend, dass ein Ergebnis dieser Diskussion nicht abgewartet werden kann, wenn der Klimawandel wirksam auf ein menschenverträgliches Maß begrenzt werden soll. Hier werden also dringend „No-Regret“ Entscheidungen zu treffen sein. Dieses Dokument belegt, weshalb wir den Klimaschutzplan von 2017 für absolut unzureichend halten, wo wir bedeutende argumentative Lücken sehen, die sich nicht mit dem Stand der Wissenschaft decken, und wo wir die erheblichen Handlungsspielräume des Landes sehen, zukünftig wirksamen Klimaschutz zu betreiben. Dieser Bericht dient dazu, unserer Landesregierung dabei zu helfen, die Ziele einer adäquaten Klimapolitik zu definieren und einzuhalten; ggf. auch durch eine Fortschreibung des integrierten Klimaschutzplans. 24 Zur Lösungsorientierung und Überprüfbarkeit von Maßnahmen sollten diese üblich SMART formuliert werden – dieses Konzept wird weiter unten erläutert. 25 Wir vermuten, dass das Bruttosozialprodukt hier als einziger Indikator hinterlegt ist, mit dem Erfolge gemessen werden sollen. Zur Messung des Wohlstands fehlen aussagefähige Indikatoren. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 12 3 Die Annahmen des iKSP (2017) 3.1 Vorgehen Bereits ein erstes Lesen des Dokumentes macht deutlich, dass ihm eine ganze Reihe von relevanten expliziten und impliziten Annahmen zu Grunde liegen, die eine hohe Auswirkung auf die weiteren Inhalte hatten. Diese Annahmen und das verwendete Verständnis von Zukunft unter verstärktem Klimawandel haben wesentliche Auswirkungen auf das, was an Maßnahmen formuliert wird, daher erscheint es wesentlich, diese Annahmen herauszuarbeiten und zu analysieren. Auch mit Sicht auf einen angestrebten Konsens (Annahme 7) sind hier Annahmen unabhängig von dem Ergebnis einer Analyse zusammengestellt. Auffällig ist, dass Annahmen sich letztendlich durch den gesamten Text ziehen und auch bei einzelnen Maßnahmen noch relevante Annahmen – oft implizit – enthalten sind. Schon aus diesem Grund ist eine Vollständigkeit der Analyse nicht möglich. Annahmen können entweder direkt und eindeutig formuliert sein, oder sie können eher implizit durch verwendete Begriffe, Formulierungen, Auslassungen und Lücken, oder Narrativen und „Frames“ im Text enthalten sein. Die Beschreibung von Narrativen oder „Frames“ ist selber keine exakte Wissenschaft, sondern 26 stellt den Versuch einer möglichst guten Annäherung dar . Es ist uns klar, dass der Begriff „Annahme“ selber durchaus zu diskutieren ist; wir beschreiben mit diesem Begriff Randbedingungen, unter denen der iKSP (2017) formuliert wurde und die insbesondere in die Auswahl 27 von Maßnahmen einfließen (welche Maßnahmen sind für die Landesregierung überhaupt anschlussfähig , welche sind innerhalb der Randbedingungen noch zulässig, welche Bedeutung und Dringlichkeit kann innerhalb dieser Randbedingungen ein Handeln haben). 3.2 Explizite Annahmen im IKSP (2017) Wesentliche Grundlagen und Erwartungen sind explizit formuliert. Insbesondere das Vorwort legt fest, in welchem Rahmen und unter welchen Randbedingungen die Landesregierung notwendige Abwägungen oder Handlungen vornehmen möchte. Annahme 1 – Ziel der Regierung ist es, „alles [zu] tun, um Hessen als lebenswertes, ökologisch vielfältiges und wirtschaftlich kraftvolles Land zu erhalten und zu stärken“ (Vorwort, S.6). Dies ist in Art 26b und 26c der hessischen Verfassung und anderen Regularien auf Bundes- und EU- Ebene festgelegt. Dies ist erst einmal ein Ziel. Die Annahme steckt in den drei Ziel-Dimensionen und in den Ziel- Dimensionen, die hier nicht genannt werden. Auffällig ist das Fehlen von „gerecht“ und „sozial“. Dies ist durchaus nicht in „lebenswert“ impliziert, wie der Fokus auf „Ökonomie“ im Weiteren nahelegt. Hierbei sind Klimaschutz und Klimaanpassung als zwei von vielen notwendigen Beiträgen zum Erreichen dieses Ziels verstanden (Annahme 2 bis Annahme 4). Gleichzeitig sind als Schutzziele explizit benannt „lebenswert“, ohne dass hierfür eine befriedigende Definition vorliegt oder geklärt ist, für wen dies wie erreicht werden soll, 28 „ökologisch vielfältig“, was implizit durch den Verweis auf Ökosystem-Services und auf den Nutzen von „malerischer Landschaft“ für den Wirtschaftsfaktor Tourismus gefasst wird, sowie 26 Z.B. Turnhout E, Tuinstra W, Halffman W (2019) Environmental Expertise. Connecting Science, Policy and Society. Cambridge University Press. 27 Mit diesem Begriff Anschlussfähigkeit meinen wir die „Eigenschaft von Wirklichkeitsbeschreibungen. Anschlussfähig sind solche Wirklichkeitsbeschreibungen, die von den anderen Mitgliedern einer Kommunikationsgesellschaft als möglich bzw. als sinnvoll akzeptiert werden. Dies ist meistens dann der Fall, wenn diese Beschreibungen in das Weltbild und das Denken der relevanten Gemeinschaft passen“ (https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/anschlussfaehigkeit-27059). Viele der Erkenntnisse der Naturwissenschaften zum System Erde sind zum Dogma des ewigen Wirtschaftswachstums nicht anschlussfähig. 28 Z.B. Trinkwasser, Wasser, Bodenqualität und Bestäubung für die Land- und Forstwirtschaft, nächtliche Kühlung, ausreichende Wasserführung der schiffbaren Flüsse für den Transport fossiler Energieträger. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 13 „wirtschaftlich kraftvoll“, was insbesondere über das Wachstumsnarrativ weiter erläutert wird. In welchem Maße jedoch Klimaschutz und Klimaanpassung zu priorisieren sind, wird erst durch weitere explizite und implizite Annahmen verdeutlicht. Damit kann auch die Diskussion der Annahmen erst dort erfolgen. Annahme 2 – „Klimawandel ist eine der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit“ (Vorwort, S.6). Dies deutet eine Hierarchie von Herausforderungen an, ohne diese dann konkret zu benennen. Hierdurch erfolgt keine explizite Priorisierung für Klimaschutz und Klimaanpassung. Im Sinne einer notwendigen Güterabwägung entsteht dadurch eine Lücke, bzw. es bleiben erst einmal beliebige Freiräume. Diese Freiräume werden im weiteren ausgefüllt, insbesondere durch Annahme 5 und Annahme 6. Annahme 3 – „eine ambitionierte Klimapolitik ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen“ (Vorwort, S.6). Hier steht der Gegenwartsbezug im Fokus, siehe auch Annahme 13 in der der Zukunftsbezug in den Fokus rückt. Wie schon bei den vorherigen beiden Annahmen erfolgt hier keine weitergehende Einordnung. Insbesondere ist „eine ganz wesentliche“ durchaus wenig belastbar, da unklar bleibt, was die anderen wesentlichen Voraussetzungen sind und wie diese gegeneinander abgewägt werden. Annahme 4 - Eine ambitionierte Klimapolitik „kann einen wichtigen Beitrag zu umweltverträglichem und nachhaltigem Wachstum leisten“ (Vorwort, S.6). Implizit wird hier und im Zusammenspiel mit Annahme 6 das Wachstumsnarrativ als Dogma 29 platziert . Dieser Satz stellt eine Rechtfertigung dar, weshalb und unter welchen Umständen Klimaschutz und Klimaanpassung gerechtfertigt sein könnten. Bereits hier ist deutlich, warum die sozialen Aspekte nicht erwähnt werden, sondern als Frame durchgängig starke (d.h. exponentiell wachsende) Wirtschaft dient. Damit kann diese Annahme insgesamt so interpretiert werden, dass das Wachstum der Wirtschaft das übergeordnete Ziel allen Handelns darstellt. Und das dieses Wachstum, soweit dies ohne 30 relevante Einbußen der Wachstumsrate möglich ist, umweltverträglich gestaltet werden sollte. 31 Welche Bedeutung das Wort „nachhaltig“ hier hat, bleibt unklar . Es besteht zu befürchten, dass die in der Wirtschaft gängige Bedeutung als zumindest konstante oder zunehmende Steigerungsrate des 32 Unternehmensgewinnes gemeint ist, also exponentielles oder hyper-exponentielles Wachstum . 29 Rivera M, Zucher F (2018) Dogma statt Debatte. Wirtschaftswachstum im parlamentarischen Diskurs. Polit Vierteljahresschrift 60: 71-93, https://doi.org/10.1007/s11615-018-0107-7. 30 Die könnte z.B. gemessen werden als „nicht fühlbar“ für Unternehmensgewinne oder Einkommen von Shareholdern. 31 Der Begriff ist ursprünglich als Wirtschaftsform eingeführt, die in einem begrenzten System (Forst) eine langfristig maximale Entnahme ermöglicht, ohne dieses System dabei langfristig zu schädigen, siehe von Carlowitz, H.C.: Sylvicultura oeconomica Oder Haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung Zur Wilden Baum-Zucht. Braun, Leipzig: 1713. Hierbei gibt es ein Maximum der langfristig möglichen Entnahme, die nicht weiter gesteigert werden kann, ohne das System irreversibel zu beschädigen oder zu zerstören. Solche Grenzen existieren für das System Erde und für einzelne Regionen für alle biologischen und physikalischen Kategorien, z.B. Kleidon A (2016) Thermodynamics of the Earth System. Cambridge University Press. Als konkretes Konzept die Planetaren Grenzen nach W. Steffen et al. (2015) Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet. Science 347: 1259855, DOI: 10.1126/science.1259855. 32 Dieser Zusammenhang ist zwar mathematisch zwingend, aber selten verstanden oder klar kommuniziert. Für eine Herleitung siehe z.B. Linow S (2019) Energie – Klima – Ressourcen. Quantitative Methoden zur Lösungsbewertung von Energiesystemen. Hanser, München. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 14 Annahme 5 – „Ökonomie und Ökologie sind gleichwertige Aspekte des Regierungshandelns“ (Vorwort, S.6). In einer ersten Betrachtung wird „Ökologie“ hier als Synonym für Klimaschutz und Klimaanpassung interpretiert: Hier werden die Rechtsgüter aus Artikel 38 und 26b der hessischen Verfassung in Beziehung gesetzt. Dabei stellt diese Aussage eine Verkürzung der Ziele des Artikels 38 dar, denn Wirtschaft ist nicht 33 Selbstzweck, sondern dient in Hessen Zwecken, in verfassungsgemäß gesetzten Grenzen . Diese Formulierung kann als Begründung verstanden werden, „Ökonomie“ vor den Auswirkungen einer angemessenen Klimapolitik zu schützen, oder eine angemessene Klimapolitik mit Rücksicht auf „Ökonomie“ nicht durchzuführen. Dieser Eindruck entsteht insbesondere durch aktuelle staatliche Handlungen, bei denen regelmäßig „Ökologie“ über „Ausgleichsmaßnahmen“ der „Ökonomie“ 34 untergeordnet wird . Soziale Aspekte werden explizit nicht benannt. Im Zusammenhang mit Annahme 21 entsteht der Eindruck, dass „Ökonomie“ auch Vorrang vor „Sozial“ hat, da ökologische Schutzgüter oft soziale Wirkungen haben, während aktuell „Ökonomie“ durch Externalisierung von Umweltauswirkungen gekennzeichnet ist. Bedauerlicher Weise wird „Ökonomie“ hier nicht weiter eingegrenzt, so dass unklar bleibt, ob es hier vorrangig um Ökonomie als gute Haushaltung, um lokale Wirtschaft und hessische kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) oder um multinationale Konzerne geht, die zu schützen sind. 35 In einer zweiten Betrachtung wird hinterfragt, warum gerade „Ökologie“ hier als Frame auftaucht : Weder Klimaschutz, noch Klimaanpassung sind „ökologische“ Themen im engeren Sinne: In beiden Handlungsbereichen geht es explizit um den Schutz menschlichen Lebens und Wirtschaftens in einem weiter dafür grundsätzlich geeigneten System Erde. Vermutlich wird hier ein spezieller systemischer Blickwinkel eingeführt: In der aktuellen Wirtschaftslehre steht oft die Wirtschaft als allumfassendes System dar, das dann Teilsysteme enthält, die mehr oder weniger zu diesem System beitragen. Eines 36 dieser in der Wirtschaft enthaltenen Teilsysteme ist ein „Umwelt“ genanntes Untersystem . Hier hätte statt „Ökologie“ auch „Fortbestand einer sozialen Gesellschaftsform“ oder „Möglichkeit von Zivilisation“ oder „ökologische Grundlage für menschliches Wirtschaften in Hessen“ stehen können. Die Verwendung des verhältnismäßig schwachen Schutzgutes „Ökologie“ als Verweis auf den Schutzcharakter eines für Menschen geeigneten lokalen oder globalen Klimas setzt hier eine klare Hierarchie für die Abwägungen von Rechtsgütern: „Ökologie“, „Klima“, „Klimaschutz“, „Schutz der Bevölkerung durch Klimaanpassung“ usw. stehen damit hinter „Ökonomie“ zurück. Dieser Befund 37 wird bereits in Annahme 1 vorbereitet, wo „Ökologie“ durch ihre Vielfalt charakterisiert wird, und nicht als Grundlage menschlichen Wirtschaftens (und damit „Ökonomie“) in Hessen. 33 „Die Wirtschaft des Landes hat die Aufgabe, dem Wohle des ganzen Volkes und der Befriedigung seines Bedarfs zu dienen. Zu diesem Zweck hat das Gesetz die Maßnahmen anzuordnen, die erforderlich sind, um die Erzeugung, Herstellung und Verteilung sinnvoll zu lenken und jedermann einen gerechten Anteil an dem wirtschaftlichen Ergebnis aller Arbeit zu sichern und ihn vor Ausbeutung zu schützen.“ Verfassung des Landes Hessen Artikel 38. 34 Letztendlich scheitern auch in Hessen erstaunlich wenige Bauvorhaben an „Ökologie“, bzw. an einem systemischen Blick auf den Erhalt funktionierender, zusammenhängender Ökosysteme. 35 Und nicht “Sozial” oder „Gerecht“ oder „Überleben“… 36 Z.B. Daly H, Farley J (2011) Ecological Economics. Island Press. 37 Hier fehlt eine messbare Kennzahl zur Charakterisierung. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 15 Annahme 6 – „Nur wenn beide (Ökonomie und Ökologie) sinnvoll verbunden werden, gelingt effektiver Klimaschutz“ (Vorwort, S.6). Die Abwägung zwischen menschlichem Wirtschaften („Ökonomie“) und Zukunftssicherung (falls dies unter „Ökologie“ gemeint ist, s.o.) ist unter den aktuellen Randbedingungen extrem komplex, bzw. 38 super boshaft . Die zunehmend stärker sichtbaren und wirkenden Folgen des Klimawandels verstärken diese Schwierigkeiten. Diese Balance in ökologisch angemessener und sozial gerechter 39 Form zu finden, ist eine massive Herausforderung für heutige und zukünftige Regierungsarbeit . Wie die aktuelle Landesregierung diese Abwägung im iKSP (2017) dann vornimmt, ist bis hierhin bereits explizit vorbereitet: „Sinnvoll verbunden“ kann hier auch als „untergeordnet“ verstanden werden, denn eine andere Interpretation würde dem bis hierhin klar entwickelten Primat der Förderung des Wirtschaftswachstums logisch widersprechen: Das übliche Argument, das hier als Narrativ enthalten ist, lautet: Nur wenn heute ausreichend und mit ausreichender Rate zukünftig zunehmend Geld verdient wird, kann man sich „Ökologie“ als Luxus leisten, wobei hier „Ökologie“ weiter als Synonym für Klimaschutz und Klimaanpassung fungiert. Damit widerspricht dieser Ansatz explizit der normativen Definition von nachhaltiger Entwicklung, die gerade Solidarität auch intergenerational festlegt – „Dauerhafte Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre 40 eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“. Annahme 7 – Klimaschutz und Klimaanpassung „kann nur gemeinsam gelingen“ und „sind Gemeinschafts- aufgaben“ (Vorwort, S.6). Damit legt die Landesregierung einige Rahmenbedingungen fest, insbesondere kann sich dies direkt auf die Regierungsform Hessens beziehen, ist aber zugleich ein Appell an alle relevanten Akteure in Hessen. Der Begriff Gemeinschaftsaufgaben wird etwas weiter durch die Annahme 11 und Annahme 12 gefasst, da dort explizit Akteure benannt werden. Klimaschutz und Klimaanpassung sind aber explizit 41 nicht als Aufgaben der Daseinsvorsorge benannt. Annahme 8 – Klimaschutz und Klimaanpassung „erfordern Neuerungen in vielen Handlungsbereichen von der Schulbildung bis hin zum Hochwasserschutz, von der Verkehrspolitik bis zur Finanzplanung“ (Vorwort, S.7). Ein relevanter Aspekt ist, dass Neuerungen in spezifischen einzelnen Aspekten der öffentlichen Verwaltung als erforderlich angesehen werden. Es geht also nicht um grundlegende Neuerungen des Handelns der Landesregierung selber, den Akteuren der Wirtschaft oder den hessischen Kommunen (Annahme 11), sondern um spezifische einzelne abgegrenzte Maßnahmen in z.T. explizit benannten Behörden. Die Entwicklung und Umsetzung sollte also konkret bei den formulierten Maßnahmen benannt werden. 38 Levin K, Cashore B, Bernstein S, Auld G (2012) Overcoming the tragedy of super wicked problems: constraining our future selves to ameliorate global climate change. Policy Sci. 45: 123-152, https://doi.org/10.1007/s11077-012-9151-0. 39 Alexander S, Floyd J, lenzen M et al. (2020) Energy Descent as a Post-Carbon Transition Scenario: How ‘Knowledge Humility’ Reshapes Energy Futures for Post-Normal Times. Futures 122: 102565, https://doi.org/10.1016/j.futures.2020.102565 40 World Commission on Environment and Development (1987) Our Common Future. Oxford University Press. http://www.un- documents.net/wced-ocf.htm Diese Intergenerationen-Solidarität wird dann gerne über das „Technik“-Narrativ ausgehebelt: Dieses Narrativ verweist auf zukünftig plötzlich vorhandene und alle physikalischen Gesetze überwindende Wundertechnologie, mit denen zukünftige Generationen dann irgendwie unserer Probleme im Nachhinein beseitigen könnten (und wodurch unser Handeln heute verantwortungslos sein darf). 41 https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-europalexikon/176770/daseinsvorsorge S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 16 Annahme 9 – THG-Emissionen können deutlich und nachhaltig über das Heben von „Effizienzpotentialen“ gesenkt werden (Vorwort, S.7). Es werden zusammen mit Annahme 10 zwei Herangehensweisen für das Mindern von THG- Emissionen benannt. Relevant ist, dass Effizienz erst zusammen mit Konsistenz und Suffizienz als gemeinsame Ansätze zur Reduktion von Umweltauswirkungen verstanden sind, hier jedoch explizit nur die Effizienz benannt wird. Annahme 10 – THG-Emissionen können deutlich und nachhaltig über das Verstetigen der „Umstellung auf erneuerbare Energien“ gesenkt werden (Vorwort, S.7). Die Versorgung mit Energie ist die Voraussetzung für die Versorgung der Menschen mit essentiellen 42 Gütern, Wirtschaft, staatliche Ordnung, Zivilisation . Daher ist die Versorgung Hessens mit 43 ausreichender Energie essentiell. Um Klimaziele zu erreichen, muss diese Versorgung langfristig aus regenerativen Quellen erfolgen, mit all den systemischen Veränderungen, die dies erforderlich macht (s.u.). Für einige Jahrzehnte könnten fossile Energieträger zusammen mit Carbon Capture and Storage (CCS) genutzt werden. Hier ist explizit kein Zeitrahmen für diese Umstellung gegeben. Annahme 11 – Wirtschaft und Kommunen sind die wichtigsten Akteure (Vorwort, S.7). Hier fehlt insbesondere die Nennung des Landes Hessen oder die Landesregierung des Landes Hessen selbst, siehe dazu auch Annahme 12. Auch die Bürger:innen des Landes Hessen selber tauchen hier nicht auf. Annahme 12 – „Freiwillige Lösungen sind staatlichen Vorgaben stets vorzuziehen“ (Vorwort, S.7). Diese Annahme wird hier ohne jede Begründung wie ein Dogma präsentiert. „stets“ bedeutet immer und ohne jede Ausnahme. Inwieweit die Landesregierung damit ihren gestalterischen Möglichkeitsraum in allen Bereichen ihrer Zuständigkeit vollständig aufgeben möchte, oder ob sie dies nur auf Klimaschutz oder Klimaanpassung bezieht, wird nicht klar. Zugleich ist dies sicher eines der Kernsätze der Einleitung, da sich diese Haltung deutlich in dem Prozess der Erstellung des iKSP (2017) und den letztendlich noch einbezogenen Maßnahmen wiederspiegelt. 44 Inwieweit diese Aussage in dieser Allgemeinheit noch mit der Verfassung des Landes Hessen oder der weiter oben noch formulierten Verantwortung der Landesregierung für ihre Bürger:innen in Übereinstimmung zu bringen ist, erschließt sich uns aus Mangel an Argumentation nicht. 42 Dass die Neoliberale Wirtschaftslehre Energie als eigenständigen relevanten Faktor vernachlässigt, sagt viel über den mangelnden Wirklichkeitsbezug dieser Lehre aus. Bereits oberflächliche Beobachtung der realen Wirtschaft verdeutlicht sofort, dass der Zugang zu günstiger Energie eine Grundvoraussetzung für Wirtschaft darstellt. Dies gilt insbesondere in technologisch komplexen Gesellschaften. Z.B. Smil V (2017) Energy and Civilization. A History. MIT Press, Cambridge und Hall CAS, Klitgaard K (2018) Energy and the Wealth of Nations. An Introduction to Biophsical Economics. Springer. Cham. 43 Was eine ausreichende Energie darstellt, hängt dabei von vielen weiteren Aspekten ab, z.B. Tainter J (2017) Collapse of Complex Societies. Cambridge University Press. 44 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Art 20a „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 17 Annahme 13 – „Klimaschutz ist (…) eine zentrale Aufgabe der Zukunftssicherung und für den Erhalt einer lebenswerten Umwelt für zukünftige Generationen“ (1.1, S.8). Siehe auch Annahme 3. Wie schon bei Annahme 2 deutet dies eine Hierarchie von Aufgaben an, ohne diese dann konkret zu benennen. Hierdurch erfolgt keine explizite Priorisierung für Klimaschutz und Klimaanpassung. Im Sinne einer notwendigen Güterabwägung entsteht dadurch eine Lücke, bzw. es bleiben beliebige Freiräume. Welche Bedeutung eine lebenswerte Umwelt für das Handeln der Regierung hat, wurde bereits in Annahme 5 insbesondere in Kombination mit Annahme 12 dargelegt. In diesen Rahmen muss daher eingeordnet werden, wie sich die Hessische Landesregierung dieser Aufgabe stellen will. Ob Zukunftssicherung zu den Aspekten einer Daseinsvorsorge gehört, bleibt unbeantwortet. Insbesondere auch, da hier kein direkter Bezug zu einem Akteur hergestellt wird, der Zukunftssicherung z.B. für die Menschen einschließlich zukünftiger Generationen hier in Hessen betreibt. Dieser Satz könnte auch als eine grundsätzlich für das eigene Handeln folgenlos verstandene Darlegung von etwas ansonsten Offensichtlichem gelesen werden. Annahme 14 – „das Klima zu schützen und menschengemachte Klimaveränderungen einzudämmen, ohne dabei aktuellen und künftigen Wohlstand zu gefährden, ist eine zentrale Aufgabe“ (1.1, S.8); siehe auch Annahme 5, Annahme 6 und Annahme 13. Dies bezieht sich auf die Definition von Nachhaltigkeit aus dem Brundtland-Report (s.o.). Allerdings ist diese Abwägung im iKSP (2017) bereits durch die Annahme 5 und Annahme 6 extrem eingeschränkt: Dort werden „Ökonomie“ und „Wachstum“ als Voraussetzung für die Möglichkeit von „Ökologie“ identifiziert. Auch an dieser Stelle steht das Wachstumsnarrativ über die Formulierung 45 „Wohlstand“ im Vordergrund . Hierdurch folgt implizit, dass die Landesregierung annimmt, es sei möglich, „das Klima zu schützen und menschengemachte Klimaveränderungen einzudämmen, ohne dabei aktuellen und künftigen 46 Wohlstand zu gefährden“ . Annahme 15 – eine „integrierte Klimapolitik (…) bietet auch die Chance, dass gleichzeitig andere Politikziele verfolgt werden können“, z.B. im Bereich Wirtschaft, Soziales, Gesundheit, Umwelt (1.3, S.11). Dies kann so verstanden werden, als ob Klimapolitik alleine nicht zu rechtfertigen ist und daher einer zusätzlichen Rechtfertigung benötigte. Annahme 16 – ökonomische Chancen des iKSP (2017) – in diesem Abschnitt sind spezifische Annahmen zu ökonomischen Nutzen von Klimaschutz und-Anpassung formuliert (1.3, S.11-14). Dies greift Annahme 6 und den Wachstumsnarrativ als Rechtfertigungsgrund für Klimapolitik auf. Dies kann so verstanden werden, als ob Klimapolitik alleine nicht zu rechtfertigen ist und daher einer zusätzlichen Rechtfertigung aus der „Ökonomie“ benötigte. 45 Die Formulierung dort lautet „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“. 46 Da dieses Argument (unendliches exponentielles Wachstum in einem begrenzten System ohne starke Veränderung des Systems) jeder die Grundbedingungen physischer Existenz berücksichtigender Logik widerspricht, wäre hier eine detaillierte Begründung wesentlich, in der erklärt wird, wie dies möglich sein kann. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 18 Annahme 17 – „eine frühzeitige Anpassung an absehbare Klimaveränderungen kann Risiken minimieren“ (5, S.37). Dies ist eine sehr vorsichtige Formulierung. Die Bedeutung von „frühzeitig“ ist nicht weiter eingegrenzt, sie kann also Jahrzehnte oder Tage bedeuten. Dazu ist durch die Verwendung von „kann“ anderes Verhalten als genauso oder möglicherweise stärker zielführend eingeführt. Damit kann diese Formulierung also auch nahelegen, dass die Anpassung an absehbare Klimaveränderungen auch zu einem späteren Zeitpunkt oder gar nicht Risiken minimiert. Durch diese Formulierung wird jede Dringlichkeit genommen. Annahme 18 – „eine frühzeitige Anpassung an absehbare Klimaveränderungen kann (…) Chancen eröffnen“ (5, S.37). Wie schon in der Annahme 15 und der Annahme 16 werden hier Vorteile und Rechtfertigungsgründe außerhalb der eigentlichen Gründe für Klimaschutz und Klimaanpassung eingeführt. Dies dient vermutlich dazu, andere Akteure zum freiwilligen Handeln zu motivieren (siehe Annahme 12). Diese Vorteile bleiben hier im ungefähren, sie werden nicht deutlich messbar dargelegt. Wie die Diskussion zu den Kernannahmen der Landesregierung zumindest vermuten lassen, kennt die Landesregierung diese Vorteile selbst auch nicht konkreter. 3.3 Implizite Annahmen im iKSP (2017) Weitere Annahmen sind implizit im Text enthalten. Bei dem Versuch diese zu greifen, fällt eine gewisse Inkohärenz, vielleicht sogar Widersprüchlichkeit des Dokuments auf. Insbesondere Themen und Hinweise im Abschnitt 1.3 stehen im Widerspruch zu den Grundannahmen der Landesregierung selber. Jedoch geht es uns hier nicht darum, diese Widersprüche zu analysieren. Das Ziel ist hier, die Annahmen herauszuarbeiten, die bei den formulierten Maßnahmen von Relevanz sind. Annahme 19 – Als Systemgrenze wird implizit die Landesgrenze Hessens verwendet. Vorrangig im Abschnitt 1.2 iKSP (2017) wird jedoch der globale Charakter des Klimawandels dargestellt. Die Landesregierung legt damit ihren Handlungsbereich rein regional fest. Diese Festlegung wäre nicht bemerkenswert. Jedoch entsteht an vielen Stellen im Text der Eindruck, dass das Land damit auch sein Verständnis zu den Auswirkungen des Klimawandels auf Hessen beschränkt und die Umwelt Hessens (das System Erde) als statisch annähme: Es werden nur einige der direkt in Hessen fühlbaren Auswirkungen konkret benannt. Jedoch fehlen die notwendigen starken Bezüge zu den globalen Abhängigkeiten des Landes Hessen, seiner Wirtschaft und seiner Bürger:innen von internationalen Lieferketten und seiner Bevölkerung von der Versorgung mit Lebensmitteln. Auch bei den identifizierten Risiken fehlen daher solche, die ihren lokalen Ursprung zwar außerhalb Hessens haben, jedoch deutliche oder schwerwiegende Auswirkung innerhalb von Hessen zeigen. Umgekehrt fehlt dadurch jede Umweltauswirkung, die Hessen außerhalb seiner Landesgrenzen 47 verursacht. Dies mündet schnell in eine Frage globaler Gerechtigkeit . Annahme 20 – Die Annahmen zur Dynamik und zum Charakter des stattfindenden Klimawandels in Hessen basieren auf dem Bild, dass Hessen sich in einem grundsätzlich statischen Umfeld befindet und auch im Klimawandel eigentlich unverändert bleibt. Daraus resultiert, dass jeweils nur einige Aspekte als durch den Klimawandel variabel angesehen werden. Diese Kontinuitätsvermutung – also die Zukunft ist grundsätzlich die Fortsetzung der Gegenwart – ist eine nahezu durchgängige Annahme des Dokuments, die an keiner Stelle klar ausgesprochen wird 47 Z.B. Brand U, Wissen M (2017) Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. Oekom, München. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 19 und für die daher auch keine Begründung abgegeben wird. Zugleich zieht sie sich erkennbar durch das Denken, dass vielen Ansätzen des Dokumentes zu Grunde liegt. Es werden der Fortbestand von Institutionen, Akteuren, Infrastruktur, Arten der Fortbewegung und ihrem Anteil am gesamten Verkehr, Landschaftsformen, Wirtschaftsformen usw. direkt vorausgesetzt. Als Risiken werden nur solche benannt, die den Status-Quo nicht grundsätzlich gefährden. Es werden mögliche schwerwiegende Risiken nicht einbezogen oder diskutiert, die grundsätzliche Veränderungen der Lebens- und Wirtschaftsbedingungen in Hessen zur Folge hätten. 48 Es steht zu vermuten, dass solche Risiken für die Landesregierung nicht anschlussfähig sind. Bemerkenswert ist dabei, dass auch die Darstellung des Klimawandels in Abschnitt 1.2 dieses Narrativ zu bestätigen scheint. Die dargestellten Projektionen sind so dargestellt, als ob keine expliziten existenzbedrohenden Auswirkungen auf Ökosysteme, Bevölkerung, Wirtschaft oder Gesellschaft 49 fassbar wären . Annahme 21 – Soziale Aspekte sind in der Einführung nicht explizit erwähnt. Anders als „Ökonomie“ haben sozialer Zusammenhalt, Gerechtigkeit, Verteilung der Lasten und Auswirkungen außerhalb der Sphäre der hessischen Wirtschaft keinen expliziten Eingang in die Problembeschreibung des Vorwortes gefunden. Hiermit ist eine klare Positionierung der Landesregierung erkennbar. Soziale Aspekte werden in weiteren Abschnitten teilweise eingeführt, dann aber unter einem eher rechtfertigenden Narrativ und nicht als Teil einer Daseinsvorsorge. 3.4 Bewertung der Annahmen aus wissenschaftlicher Perspektive Allgemeine Punkte Für viele der identifizierten Annahmen gelten als gemeinsame Beobachtungen: Es findet keine Gewichtung der zentralen Ziele statt. Der Umgang mit Zielkonflikten wird entsprechend nicht thematisiert. Damit wird ein Umgang mit (existierenden oder zukünftig absehbaren) Zielkonflikten zumindest sehr erschwert. Die Begriffe „Ökonomie“ und „Ökologie“ werden vielfach verwendet, jedoch wird nirgends klar definiert, was sie meinen. Es entsteht der Eindruck, „Ökologie“ wäre ein der „Ökonomie“ unterzuordnendes Luxusgut. Damit wird die Rolle des Klimaschutzes im Sinne der Existenzsicherung und damit auch als Teil der Daseinsvorsorge und als Grundlage allen wirtschaftlichen Handelns negiert. Die Grenzen eines ewigen oder weiteren wirtschaftlichen Wachstums im heutigen Sinne werden ignoriert. Während dieses ewige exponentielle Wachstum als Lebensvoraussetzung unterstellt wird, wird der Klimaschutz, der begrenzte Ressourcen dieser Erde (z. B. Trinkwasser) und die Lebensbedingungen für Menschen auf dieser Erde sichern soll, als abzuwägendes Luxusgut 50 angedeutet . Die Kosten des Nichthandelns – also „business as usual“ beim Klimaschutz in Kombination mit ungenügender oder keiner Klimaanpassung – werden zwar erwähnt, aber nicht gleichberechtigt und transparent neben die Kosten des Handelns gestellt. Obwohl „Ökonomie“ im Vordergrund stehen 48 Zum Begriff, siehe Fußnote 27. 49 Dies steht in direktem Widerspruch zu den Erkenntnissen und der Kommunikation des HLNUG. 50 Wir sind uns bewusst, dass diese Sicht in der orthodox neo-liberalen Schule verbreitet ist. Allerdings ist diese Sicht ausgiebig falsifiziert (siehe Quellen an anderen Stellen dieses Berichtes) und muss im besten Falle als Zombie-Theorie angesehen werden. Siehe Quiggin J (2012) Zombie Economics: How Dead Ideas Still Walk Among Us. Black Inc. Dies ist, was Levin L, Cashore L, Bernstein S, Auld G (2012): Overcoming the tragedy of super wicked problems: constraining our future selves to ameliorate global climate change. Policy sciences 45: 123-152, https://doi.org/10.1007/s11077-012-9151-0 als vierten ihrer Kennzeichen von Super wicked problems angeben: Als Ergebnis (der ersten drei Kennzeichen) schreibt Politik die Zukunft ab. "Partly as a result, policy responses discount the future irrationally". Siehe Fußnote 17. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 20 soll, wird damit eine ernsthafte oder sinnhafte ökonomische Bewertung im iKSP (2017) nicht 51 motiviert und ist dementsprechend auch nicht enthalten . Die Bedingungen, um die Klimaschutzziele zu erreichen, werden nicht transparent benannt (insbesondere das Prinzip des CO2-Budgets wird nicht thematisiert, obwohl es zentral für den Klimaschutz ist und den Zeitplan in Abhängigkeit der Wirksamkeit umgesetzter Maßnahmen diktiert) – siehe unten. Maßnahmen werden nicht priorisiert. Insbesondere werden Klimaschutz und Klimaanpassung scheinbar gleichberechtigt nebeneinandergestellt, obwohl diese bezüglich Ressourcen in Konkurrenz zueinander stehen können. 52 Es ist kein Controlling vorgesehen. Es werden keine SMARTen Ziele gesetzt oder auch nur gefordert, obwohl diese doch den Kern guter „Ökonomie“ ausmachen müssten. Fast ausschließlich unklare, wenig greifbare und erst recht nicht kontrollierbare oder rechtlich fassbare Maßnahmen folgen daher. Die Annahmen verhindern daher eher eine angemessene und ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Klimawandel auf Landesebene. Wir gehen nicht davon aus, dass dies das erklärte Ziel ist, sondern, dass 53 letztendlich das dahinter liegende Wachstums-Dogma die notwendige Anschlussfähigkeit des Klimawandels und seiner Risiken bei der Landesregierung erschwert hat. Annahmen zu den Randbedingungen Dem Vorwort, aber auch vielen konkreten Maßnahmen liegt ein grundsätzlich statisches Verständnis von Randbedingungen zu Grunde. Es wird davon ausgegangen, dass die globalisierte Welt als Wirtschaftsfaktor, die Verfügbarkeit von Ressourcen und das politische Umfeld eine andere Kategorie sind als der Klimawandel. Dieses Verständnis ist in der Trennung zwischen der Sphäre der „Ökonomie“ und der „Ökologie“ angelegt. Es zieht sich dann durch den iKSP als extrem fragwürdiges Verständnis: Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Wasser, Gebrauchsgütern usw. sei unabhängig von allen Auswirkungen des Klimawandels gegeben. Hier bräuchte daher keine Aufmerksamkeit auf Risiken verwendet zu werden. Aufgrund des Klimawandels werde es zu keinen nationalen oder internationalen Krisensituationen kommen, die Hessen betreffen könnten. Daher bräuchte sich das Land nicht auf solche vorzubereiten. Klimawandel werde keine (grundlegende) Veränderung der Ökosysteme in Hessen herbeiführen, die zu völlig neuen Landschaftsformen oder Wirtschaftsformen führen könnten. Energie stünde auch in Zukunft jederzeit einfach in ausreichender Menge bedarfsgerecht zur Verfügung. Benötigte Rohstoffe könnten auch in Zukunft jederzeit in ausreichender Menge und problemlos eingeführt werden. Damit werden sehr viele der größeren und relevanteren Risiken des Klimawandels ausgeblendet. Diese Auswirkungen sind nicht Teil der Betrachtungen des iKSP (2017), sie sind nicht Teil des Diskurses an dem die Landesregierung beteiligt ist und sie sind damit nicht Gegenstand der Analyse durch Ämter und Behörden. Dies ist für das Land und seine Bewohner:innen zumindest gefährlich: Es wird eine vollständige und die reale Dynamik verstehende Betrachtung der Risiken aus dem Klimawandel für Hessen benötigt, unabhängig davon, ob diese Risiken in Hessen selber entstehen oder nach Hessen importiert werden, um rechtzeitig geeignete 54 Maßnahmen denken und ergreifen zu können . 51 Es ist zumindest irritierend, dass zwar „Ökonomie“ laut iKSP einen hohen Stellenwert haben soll, dann aber im Konkreten die Grundlagen guten ökonomischen Denkens und Arbeitens nicht erkennbar werden. 52 Zur Erklärung des Begriffs, siehe Fußnote 146. 53 Das Dogma des ewigen und zumindest exponentiellen Wachstums, gemessen an finanziellen Indikatoren, als zentrale Handlung und wichtigstes Ziel. Die Vermutung, dass nur ewiges exponentielles Wachstum an Gütern zumindest für einige den Wohlstand für alle sichern könne. 54 Als Hinweis für ein realistisches Szenario verweisen wir auf Hahn M (MdB), Kuffer M (MdB), Mihalic I (MdB) et al. (2020) Grünbuch 2020 des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit. Berlin. https://zoes-bund.de/wp-content/uploads/2020/12/201130_Gruenbuch_2020_digital-BF.pdf. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 21 Annahmen, die Regularien oder das politische System Hessens abbilden. Diese Gesetze und Regularien stehen nicht zur Debatte. Einige der Formulierungen im iKSP (2017) könnten geeignet nachgeschärft werden, Bezüge zur Verfassung und zu anderen nationalen oder europäischen Regularien könnten angegeben werden. Annahmen zur Dynamik und zur Relevanz des Klimawandels. Auf den ersten Blick wirkt es so, als ob die Autor:innen des iKSP (2017) den Klimawandel und seine Folgen für Hessen ernst nähmen und damit den Maßnahmen für Klimaschutz und Klimaanpassung die notwendige 55 Dringlichkeit einräumen. Die Analyse der Annahmen, auf denen die Landesregierung ihr Handeln basiert (s.o.) und der Maßnahmen selber (s.u.), legt dann eine gänzlich andere Interpretation nahe. Es erscheint, als ob mit Rücksicht auf „Ökonomie“ und in Erwartung von ewigem „Wachstum“ die Auswirkungen des Klimawandels auf Hessen abgeschrieben werden. Zentral ist dabei für die Bewertung das tatsächliche Handeln, bzw. der Umfang, der Zeitplan und die Ressourcenzuordnung der einzelnen Maßnahmen: 56 Die formulierten Maßnahmen sind alle eher langfristig angelegt . 57 Die formulierten Maßnahmen haben alle eine eher geringe Wirkung, die auch in Summe nicht im Ansatz ermöglichen, die formulierten Ziele zu erreichen. Die formulierten Maßnahmen stellen nur marginale Eingriffe dar, die keine systemische Herangehensweise ausmacht. Dass die formulierten Maßnahmen das Problem nicht lösen werden, illustriert die Schwerpunkt- setzung. Die Landesregierung kann so den Eindruck erwecken, dass sie die mittelfristige Zukunft des Landes zugunsten kurzfristiger Unternehmensgewinne abschreibt – insbesondere die Annahme 5 und die Annahme 6 legen diesen Eindruck nahe und könnten diesen Eindruck begründen. Klimawandel ist zumindest eine der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit (Annahme 2), da die mittelfristigen Folgen des Klimawandels – abhängig vom zeitabhängigen Anstieg und dem eventuellen Maximum der THG-Konzentration in der Atmosphäre und dem möglichen Maximum der Temperatur von Atmosphäre und Ozean – zumindest eine völlige und ständige Neuorganisation von Klima, Ökosystemen und damit insbesondere Land- und Forstwirtschaft in Hessen absehbar bereits in diesem Jahrhundert verursachen. Die Folgen des Klimawandels können je nach Entwicklung auch existenzbedrohend für die staatliche Ordnung in Hessen sein. Schreitet diese Entwicklung weiter fort, könnte dies auch das Ende für 58 höheres Leben im System Erde sein . Selbst im besten Falle bedeutet die mit dem Klimawandel verbundene 59 Entwicklung das absehbare Ende fossiler Energieträger – ein alle Grundlagen des Lebens, Wirtschaftens und des staatlichen Handels verändernden Prozesses. Die Veränderungen des Klimas laufen z.Zt. mit 55 Nicht-Handeln, Abwarten, Verzögern, Auf andere Instanzen verschieben, erst einmal Forschungsbedarf diskutieren usw. sind alles auch Handlungen. Alle diese Formen von Handlung haben ein klares Ziel und es liegt ihnen eine klare eindeutige Gewichtung zugrunde. Siehe auch Levin K, Cashore B, Bernstein S, Auld G (2012) Overcoming the tragedy of super wicked problems: constraining our future selves to ameliorate global climate change. Policy Sci. 45: 123-152, https://doi.org/10.1007/s11077-012-9151-0. 56 Also oft erst deutlich nach Ablauf der Amtsperioden heutiger Amtsinhaber bewertet werden können. 57 Gemessen z.B. am CO2-Budget, das aus den COP-21 Zusagen der Bundesregierung folgen würde 58 IPCC Fifth Assessment Report (AR5), https://www.ipcc.ch/report/ar5/syr/. Für eine allgemeinverständliche Darstellung Lynas M (2008) Six Degrees. Our Future on a Hotter Planet. National Geographic, Washington, sowie Wallace-Wells D (2019) Die unbewohnbare Erde. Leben nach der Erderwärmung. Ludwig Verlag. Aktuell auch Steffen W, Rockström J, Richardson K et al. (2018) Trajectories of the Earth System in the Anthropocene. PNAS: 115 (33) 8252-8259, https://doi.org/10.1073/pnas.1810141115. 59 Zur Reichweite fossiler Energieträger, siehe McGlade C, Ekins P (2015) The geographical distribution of fossil fuels unused when limiting global warming to 2 °C. Nature 517: 187-190, https://doi.org/10.1038/nature14016. Zur Bedeutung von Energie Smil V (2017) Energy and Civilization. A History. MIT Press, Cambridge. Zur Disruption eines Endes der Versorgung mit fossilem Erdöl allgemein z.B. Capellan-Perez I, Mediavilla M, de Castro C et al (2014) Fossil fuel depletion and socio-economic scenarios: An integrated approach. Energy 77: 641-666, https://doi.org/10.1016/j.energy.2014.09.063 und mit dem Fokus auf Transport z.B. Friedemann AJ (2016) When Trucks Stop Running. Energy and the Future of Transportation. Springer, Cham. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 22 60 beeindruckender Geschwindigkeit ab , wobei diese Veränderungen gerade erst beginnen, in die wahrgenommene Wirklichkeit einzudringen – siehe Kapitel 4 in diesem Bericht. Die Landesregierung trägt die Verantwortung für die Bevölkerung Hessens und muss deshalb die Fortschreibung des iKSP nutzen, um undogmatisch einen abgestimmten Maßnahmenkatalog zu entwickeln und umzusetzen, der der Dringlichkeit des Klimawandels und den daraus entstehenden Risiken für die Bevölkerung, die Gesellschaft und die lokale Wirtschaft gerecht wird. Als Grundlage dafür ist es nötig, die Ernsthaftigkeit und das Ausmaß des klimabedingten Wandels und seiner globalen, regionalen und lokalen Folgen zu erkennen und zu akzeptieren. Annahmen zum Wirtschaftswachstum und das Wachstumsnarrativ. 61 Inwieweit ein weiteres Wachstum der Wirtschaft und damit des Energie- und Ressourcenverbrauchs 62 63 64 65 notwendig , wünschenswert , ökologisch vertretbar , mit den Klimazielen vereinbar , oder mittelfristig 66 möglich ist , muss jeweils zumindest sehr kritisch bewertet werden. Inwieweit Wirtschaftswachstum ein Dogma ist, das zumindest in affluenten Gesellschaften seiner 67 Notwendigkeit längst enthoben ist, muss gefragt werden . Statt sich also hinter dem Wachstumsdogma zu verschanzen (Annahme 4); und dabei darauf zu hoffen, dass damit ggf. auch soziale Probleme oder die Krisen aus dem Klimawandel zu lösen sind (als Zombie-Theorie der 68 „trickle down economy“ ), ist dringend gerade für ein reiches Land wie Hessen undogmatisch zu klären, welche Formen von Wachstum und Wohlstand langfristig eine für alle Menschen gute Gesellschaftsform 60 Mindestens eine Größenordnung schneller, als alles, was an sehr schnellen geologischen Prozessen bisher im System Erde erkannt wurde, siehe z.B. als Überblick Rohling EJ (2020) The Oceans. A Deep History. Princeton University Press. 61 In der spekulativen Wirtschaftslehre wurde eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum als rein monetärem Wachstum und Wirtschaftswachstum als physische Anhäufung von Artefakten postuliert. Oft dient dabei die sogenannte “Environmental-Kutznetz- Curve“ als Visualisierung. Zum Stand der Diskussion und der Nicht-Existenz der Entkoppelung, siehe Parrique T, Barth J, Briens FC et al. (2019) Decoupling debunked: Evidence and arguments against green growth as a sole strategy for sustainability. European Environmental Bureau, https://eeb.org/library/decoupling-debunked/ 62 Es ist notwendig, um das auf Kredit und Wachstum basierende Wirtschaftssystem weiter in die Zukunft fortsetzen zu können. Dies stellt jedoch keinen Wert an sich dar und genügt nicht, um eine Notwendigkeit zu begründen. 63 Diese Frage berührt Erwartungen an das Gute Leben. 64 Die einsetzenden Veränderungen aufgrund des Klimawandels stellen nur einen der vielen Umweltauswirkungen von (fortgesetztem) Wachstum dar. Die geäußerte Vermutung, eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltauswirkungen durch z.B. Extraktion von Ressourcen, Müll und Emissionen, Versiegelung von Landfläche als dem irreversiblen Verlust von Landfläche für andere Zwecke, Zerstörung von Ökosystemen und damit verbundenen Ökosystemservices usw. könne ein Wirtschaftswachstum langfristig ermöglichen, kann bisher nicht beobachtet werden. Aus grundlegenden biologischen und physikalischen Erwägungen heraus erscheint dieser Effekt nicht möglich, siehe z.B. Hall CAS, Klitgaard K (2018) Energy and the Wealth of Nations. An Introduction to Biophysical Economics. Springer. Cham. Eine konkrete Analyse Alexander S, Rutherford J, Floyd J (2017) A Critique of the Decoupling Strategy: A ‘Limits to Growth’ Perspective. Simplicity Institute. 65 DeFries R, Edenhofer O, Halliday A et al. (2019) The missing economic risks in assessment of climate change impacts. The Earth Institute.The missing economic risks in assessments of climate change impactsAber auch Keen S (2020) The appallingly bad neoclassical economics of climate change. Globalizations, https://doi.org/10.1080/14747731.2020.1807856. 66 Zu diesen Fragen auch als Einführung Daly H (2005) Economics in a full World. Scientific American und in Tiefe Daly H & Farley J (2011) Ecological Economics: Principles and Applications. Island Press, Washington. Als Kern-Aussage dient das Zitat aus Economics in a full World: „Even trying to define sustainability in terms of constant GDP is problematic because GDP conflates qualitative improvement (development) with quantitative increase (growth). The sustainable economy must at some point stop growing, but it need not stop developing. There is no reason to limit the qualitative improvement in design of products, which can increase GDP without increasing the amount of resources used. The main idea behind sustainability is to shift the path of progress from growth, which is not sustainable, toward development, which presumably is.” 67 Rivera M, Zucher F (2018) Dogma statt Debatte. Wirtschaftswachstum im parlamentarischen Diskurs. Polit. Vierteljahresschrift 60: 71-93, https://doi.org/10.1007/s11615-018-0107-7 68 Quiggin J (2012) Zombie Economics: How Dead Ideas Still Walk Among Us. Black Inc. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 23 ergeben und wie zugleich die notwendigen Ökosystem-Leistungen („ecosystem services“) in einem sich 69 extrem schnell ändernden Klima- und Vegetationssystem möglich sind . In diesem Zusammenhang (Annahme 6) erscheint es (leider) notwendig, darauf hinzuweisen, dass „Ökologie“ 70 mittelfristig „Ökonomie“ ermöglicht, insbesondere im Hinblick auf den Klimawandel , nicht anders herum: 71 72 73 Lebensmittel und Bioökonomie , Luftsauerstoff , Wasserversorgung sind ohne eine Biosphäre innerhalb eines für menschliches Leben und menschliche Zivilisation notwendigen engen Rahmens nicht möglich. Es erscheint kaum denkbar, dass „Wirtschaft“ im heutigen Verständnis und unter dem heutigen Druck alle möglichen Kosten zu externalisieren, weitere biophysikalischen Grundlagen ihres Wirtschaftens selber finanzieren kann. Damit stellt das Bewahren der biophysikalischen Grundlagen für menschliches Leben, Gesellschaft und gutes Wirtschaften den Primat einer guten Wirtschaftspolitik dar – dies wäre ein echter und dringend notwendiger Paradigmenwechsel. Eher implizit wird im iKSP (2017) das Bruttosozialprodukt als Indikator eingeführt. Dieser Indikator misst sehr gut die Wirtschaftsleistung und damit verbunden den Energie- und Ressourcenverbrauch sowie die entstehenden Umweltauswirkungen. Er misst nicht den Wohlstand, die Gesundheit, die Zufriedenheit, den sozialen oder gesellschaftlichen Frieden oder andere Werte, die eigentlich und im Verständnis der Verfassung 74 des Landes Hessen das eigentliche Ziel des Regierungshandelns darstellen . Hier ließen sich z.B. im Umfeld 75 der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen Indikatoren finden, die Menschen und 76 Daseinsvorsorge in das Zentrum des Denkens stellen . Unabhängig von dem bisher gesagten ist ein weiterer Aspekt relevant. Klimaschutz wird oft als Alternative gegenüber einem eigentlich zu bevorzugendem „business as usual“ formuliert, wobei angenommen wird, dass „business as usual“ – also eine auf fossilen Energieträgern basierende Wachstumsökonomie – weit in die Zukunft hinein möglich ist. Diese Annahme ist selber stark zu bezweifeln: Fossile Energieträger sind endlich. Fossile Energieträger, die zu geringen finanziellen und energetischen Kosten bereitgestellt werden 77 können, sind ausgesprochen endlich . Sie werden in jedem Falle absehbar, also in diesem Jahrhundert soweit versiegen, dass sie nicht mehr als wesentliche energetische Basis einer (wachsenden) Wirtschaft 78 dienen können . Damit ist eine Energiewende – mit all ihren beeindruckenden Schwierigkeiten – notwendig, um den Fortbestand unserer Gesellschaft zu sichern. 69 Hauff M (2005) Wachstum. Die Kontroverse um nachhaltiges Wachstum. Hessische Landeszentrale für Politische Bildung. Hall CAS, Klitgaard K (2018) Energy and the Weath of Nations. An Introduction to Biophysical Economics. Springer. Cham. Georgescu-Roegen N (1971) The Entropy Law and the Economic Process. Harvard University Press. 70 Smil V (2017) Energy and Civilisation. A History. MIT Press 71 Smil V (2013) Harvesting the Biosphere. What we have taken from Nature. MIT Press. 72 Rohling EJ (2020) The Oceans. A Deep History. Princeton University Press. Sitte P, Ziegler H, Ehrendorfer F, Bresinsky A (1991) Straßburger. Lehrbuch der Botanik für Hochschulen. Gustav Fischer Verlag. 73 Kleidon A (2016) Thermodynamics of the Earth System. Cambridge University Press. 74 Hall CAS, Klitgaard K (2018) Energy and the Wealth of Nations. An Introduction to Biophysical Economics. Springer. Cham. 75 https://www.un.org/sustainabledevelopment/sustainable-development-goals/ 76 Eine sehr andere Sichtweise gibt z.B. der Happy-Planet Index, Meinert S, Stollt M (2010) Bruttoinlandsglück – Auf der Suche nach qualitativer Entwicklung. Bpb. Siehe auch http://happyplanetindex.org/ 77 Hierzu existiert eine umfangreiche Literatur; als Einstieg z.B. Capellán-Pérez I, Arto I, Polanco-Martínez JM, et al. (2016) Likelihood of climate change pathways under uncertainty on fossil fuel resource availability. Energy Environ. Sci. 9: 2482-2496, DOI: 10.1039/C6EE01008C. Capellán-Pérez I, Mediavilla M, de Castro C et al. (2014) Fossil fuel depletion and socio-economic scenarios: An integrated approach. Energy 77: 641-666, https://doi.org/10.1016/j.energy.2014.09.063 78 McGlade C, Ekins P (2015) The geographical distribution of fossil fuels unused when limiting global warming to 2 °C. Nature 517: 187-190, https://doi.org/10.1038/nature14016. Die Reichweite der drei fossilen Energieträger Erdöl, Erdgas und Kohle hängt von der zukünftigen Nutzung ab; die statischen Reichweiten (konstante Extraktion) der Energieträger betragen mit den angegeben Werten etwa 150 Jahre für Erdöl, 250 Jahre für Erdgas und 400 Jahre für Kohle. Steigender Energieverbrauch verkürzt diese Zeiträume entsprechend. Anhand der in der Quelle angegeben Extraktionskosten wird deutlich, dass diese Ressourcen zu zukünftig deutlich ansteigenden Kosten vermarktet werden müssten. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 24 Annahmen zur Rolle der Politik Rückblickend auf die letzten 40 Jahre an Klimaschutz lässt sich problemlos erkennen, dass freiwillige Ansätze offensichtlich dieses Problem nicht lösen. Daher ist diese Annahme 12 – „Freiwillige Lösungen sind 79 staatlichen Vorgaben stets vorzuziehen“ (Vorwort, S.7) – schlicht falsch . Klimaschutz und Klimaanpassung sind super-boshafte Probleme, die sich nicht einfach von alleine oder durch ein wenig freiwillige Handlungen 80 einiger Akteure lösen lassen, es sind Aufgaben, die jetzt konkrete Regierungsarbeit benötigen . Diese Forderung an die Politik wird eindeutig in Szenarien zu einer Wirtschaft unter Klimaschutz formuliert: Die 81 Deutsche Energie-Agentur (DENA) , der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) zusammen mit dem 82 Verband der Deutschen Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) und das Fraunhofer-Institut für Solare 83 Energiesysteme (ISE) haben unabhängig voneinander untersucht und erläutert, wie wesentliche Klimaziele zu erreichen sind und welche Rolle der Gesetzgeber dabei einnehmen muss, damit eine Transition stattfinden kann. Insbesondere werden dort auch Randbedingungen untersucht, die notwendig sind, damit Industrie langfristig in Deutschland wettbewerbsfähig bleibt und die erforderliche Transition selber bewältigen kann. Wir weisen hier explizit auf diese Stimmen aus der „Ökonomie“ hin, da diese – zumindest aus der Logik und Perspektive des iKSP (2017) – das Gehör der Landesregierung haben sollten. Allerdings weist die Landesregierung die Verantwortung für diese Aufgabe in Annahme 11 von sich. Zugleich werden durch diese Annahme der Bund, das Land, die Landkreise und die Bürger:innen als weniger wichtig angesehen. Dies bedeutet auch eine Zuweisung von Verantwortlichkeit. Durch die Betonung der Wirtschaft erscheint es, als ob die Landesregierung ihre eigene Rolle bewusst klein hält. Eine Motivation könnte sein, über Deregulierung oder Mangel an Regulierung das Geschäftsmodell der Maximierung des Unternehmensgewinnes durch Externalisierung von Kosten zu unterstützen – was zum Primat der „Ökonomie“ passt. 84 Klimaschutz ist die Voraussetzung für den Fortbestand einer stabilen Gesellschaft, nicht weniger , auch hier in Hessen. Ohne Klimaschutz und Klimaanpassung sind alle anderen Aufgaben einer Zukunftssicherung mittelfristig irrelevant. Dies soll nicht die Bedeutung anderer zentraler Aufgaben schmälern, sondern den alles durchdringenden Charakter des Klimawandels verdeutlichen: Keine Aufgabe sollte ohne ihren Bezug zum Klimawandel bearbeitet werden. Dies kehrt insbesondere die Rechtfertigungs-Logik der Annahme 15 um und verstärkt die Argumentation in Annahme 16 massiv. Anders als viele andere Themen werden die alles durchdringenden Änderungen aus dem Klimawandel nicht verschwinden, wenn man sie aussitzt oder die Debatte verschwinden lässt. Die Landesregierung hat damit die Verantwortung, die dringende Notwendigkeit für Klimaanpassung und Klimaschutz schlüssig und nachvollziehbar darzustellen, sodass möglichst alle Akteure die damit verbundenen weitreichenden Änderungen verstehen und mittragen; schnell einen verlässlichen gesetzlichen Rahmen schaffen, in dem relevante Akteure dann auch durch freiwilliges Handeln effektiv zu Klimaschutz und Klimaanpassung beitragen. Wesentlich ist dabei für alle Akteure, dass ihr dafür notwendiger und erheblicher Beitrag ihnen nicht schadet oder schlicht 79 Hier erlauben wir uns, auf das Faktische hinzuweisen, also den Mangel an Handlung. Dazu kommt Evidenz aus der Wissenschaft, die zeigt, dass staatliche Regularien einen Unterschied machen, z.B. Eskander SMSU, Fankhauser S (2020) Reduction in greenhouse gas emissions from national climate legislation. Nature Climate Change 10: 750-756, https://doi.org/10.1038/s41558-020-0831-z und erbeten ggf. den Gegenbeweis. 80 Grunwald A (2010) Wider die Privatisierung der Nachhaltigkeit. Warum ökologisch korrekter Konsum die Umwelt nicht retten kann. Gaia 19: 178-182, https://doi.org/10.14512/gaia.19.3.6. Zum Handlungsstau der Dekarbonisierung auch Rinscheid A, Wüstenhagen R (2019) Germany’s decision to phase out coal by 2038 lags behind citizens‘ timing preferences. Nature Energy 4: 856-863. https://doi.org/10.1038/s41560-019-0460-9 81 Deutsche Energie Agentur: DENA-Leitstudie Integrierte Energiewende. https://www.dena.de/integrierte-energiewende/ 82 Gerbert P, Herhold P, Burchardt J et al (2018) Klimapfade für Deutschland. Boston Consulting. https://www.bcg.com/de-de/publications/2018/climate-paths-for-germany 83 Fraunhofer ISE: Was kostet die Energiewende? Wege zur Transformation des deutschen Energiesystems bis 2050. https://www.ise.fraunhofer.de/de/veroeffentlichungen/studien/was-kostet-die-energiewende.html 84 Z.B. Barnosky A, Brown JH, Daily GC et al (2014) Introducing the Scientific Consensus on maintaining Humanity’s Life Support st Systems in the 21 Century: Information for Policy Makers. The Anthropocene Review 1: 78-109, https://doi.org/10.1177/2053019613516290. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 25 unmöglich ist. Hierbei steht das gesamte Arsenal an Möglichkeiten zur Verfügung. Als Beispiel muss zumindest ein „level playing field“ für Produkte existieren, die einen erheblichen Beitrag zum 85 Klimaschutz liefern . Es ist mehr als fraglich, ob private Akteure die notwendigen Ressourcen haben, um rein freiwillig die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Die Energiewende oder die Klimaanpassung erfordern hohe Investitionen, die erst in einem geeigneten, notwendige 86 Planungssicherheit schaffenden regulatorischen Umfeld möglich werden ; die Möglichkeiten für schnelles staatliches Handeln auf allen Ebenen und auch bei komplexen Vorhaben zu schaffen. Gerade Klimawandel-bedingte Krisen werden erfordern, dass Kommunen, Bezirke, Städte, Kreise und das Land selber angemessen auf neue Situationen (anderes Klima), neue Risiken (Feuer, Dürre, Ernteausfälle, u.a.) reagieren können. Reines Vertrauen auf Marktmechanismen oder eventuelle freiwillige Handlungen anderer Akteure werden wesentliche Aspekte einer Daseinsvorsorge sicher zukünftig nicht sicherstellen. als Vermittler für notwendige Interessensausgleiche zu agieren. Wesentliche Maßnahmen einer Klimaanpassung werden sich nicht auf einzelne Kommunen beschränken lassen, sondern benötigen regionale Strukturen. Hier wird das Land als Vermittler für Interessensausgleich benötigt. Das Land wird ggf. Strukturen auf allen Ebenen anpassen müssen, um regionale Verantwortung geeignet zu gestalten und so Probleme schnell und proaktiv lösen zu können. Daher werden absehbar Änderung in allen Aspekten und Bereichen des Landes Hessen notwendig, weit über das hinaus, was in Annahme 8 eingeführt ist. Dort war ein spezifisches Verständnis von Klimaänderung zu Grunde gelegt (s.u.), mit dem es unmöglich ist, den alles durchdringenden Charakter des Klimawandels und die Dynamik der jetzt stattfindenden Veränderungen zu greifen. Klimaschutz und Klimaanpassung werden unsere Gesellschaft in tiefgreifender Weise und auf eine Art verändern, die wir uns heute nicht vorstellen 87 können . Besonders spürbar wird diese Annahme in der Entstehung des iKSP (2017): Dort sollten unterschiedliche Akteure unter dieser und weiterer Annahmen unterschiedliche Maßnahmen vorschlagen, also letztendlich nur Maßnahmen die freiwillig angegangen werden könnten und die kurzfristig keine negativen Auswirkungen auf die Gewinnerwartung von Unternehmen haben. Dass dann im Bezug auf das Ziel nur ungenügende Maßnahmen vorgeschlagen und ausgewählt werden, ist zu erwarten gewesen (und war möglicherweise auch das bewusst gesetzte Ziel). Damit die Fortschreibung des iKSP nicht wieder nur ungenügende Ansätze liefert, wird das Land nicht umhinkommen, diesmal konkrete Vorgaben zu machen: Fokus auf Maßnahmen, die jeweils erheblich zur Zielerreichung beitragen und die in Summe es möglich machen, die Ziele von Klimaschutz und Klimaanpassung zu erreichen. Welche Akteure dann welche Aufgaben zu übernehmen haben, folgt aus diesen Maßnahmen. Die Dynamik der Entwicklung wird neues Denken und Handeln erzwingen. Ein Verbleiben in alten Strukturen und Denkmustern stellt einen eigenständigen und erheblichen Risikofaktor für das Land und seine Bevölkerung dar. Erst wenn der Klimawandel als solches verstanden und angenommen ist, beginnt relevantes 88 Handeln . 85 Der Begriff des „level playing field“ meint gleiche Wettbewerbsbedingungen. Hier ganz konkret, dass alle Produkte zu gleichen Kosten für den Käufer am Markt angeboten werden: Erst wenn synthetische Power-to-X-Kraftstoffe, Wasserstoff oder Elektrizität für Endverbraucher zumindest gleiche Kosten verursachen, können dort freiwillige Lösungen erwartet werden. 86 Als Beispiel: Alle Untersuchungen zu E-Fuels legen nahe, dass diese unter heutigen Bedingungen etwa 2,- bis 5,- €/l Benzin- Äquivalent kosten. Damit sind sie nur wettbewerbsfähig, wenn durch regulatorische Vorgaben hier ein „level playing field“ ermöglicht wird, ansonsten wird der freie Markt bei fossilen Brennstoff verbleiben. 87 Als Versuch, dies zu fassen z.B. Buck HJ (2020) After Geoengineering. Climate Tragedy, Repair, and Restoration. Verso, London. 88 Diamond J (2019) Upheaval. How Nations Cope with Crisis and Change. Allen Lane. Deutsch: Krise. Wie Nationen scheitern oder sich erneuern. S. Fischer, Frankfurt. Oreskes N, Conway EM (2015) Vom Ende der Welt: Chronik eines angekündigten Untergangs. Oekom, München. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 26 Gestaltungsansätze und Wohlstandsbewahrung In den Annahmen werden viele Gestaltungsansätze eher ausgeschlossen. Zwar werden Klimaschutz und Klimaanpassung als zentrale Aufgaben der Zukunftssicherung erwähnt, anschließend aber gleich wieder in 89 Annahme 14 der kurzfristigen „Ökonomie“ untergeordnet . Annahme 14 kann bezweifelt werden: die notwendigen Investitionen sind immens und können nicht nur zukünftigen Generationen zur Last gelegt werden. Der Korpus an wissenschaftlichen Analysen aus unterschiedlichen Disziplinen und Daten zu diesem Thema ist beeindruckend und es kann hier ein wissenschaftlicher Konsens ausgemacht werden, dass es extrem schwierig sein wird, unter der Maßgabe aktuellen Wohlstand und (mittelfristigen) zukünftigen Wohlstand zu erhalten (im „Ökonomie“-Frame also exponentiell wachsen zu lassen), nennenswerte oder 90 relevante Klimapolitik zu machen . Inwieweit es möglich ist, gleichzeitig Wohlstand zumindest zu bewahren und relevante Klimapolitik zu gestalten, stellt den Gegenstand intensiver interdisziplinärer Diskussion unter 91 der Beteiligung nahezu aller Wissenschaften dar und sollte eine Kernfrage verantwortlichen politischen Handelns sein. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Effizienz (Annahme 9) beitragen kann, wenn dies im gesamten System (also je nach Bilanzierungsrahmen dem Land Hessen oder dem System Erde) zu einer 92 Reduktion z.B. von THG kommt . Als Narrativ ist „Effizienz“ allgegenwärtig. „Effizienz“ ist zuerst ökonomisch sinnvolles Handeln und muss in diesem Rahmen verstanden werden. Das Ziel der Effizienz ist die Maximierung des Nutzens und des Gewinns, der dann für weitere ökonomische Handlungen verwendet werden soll, wobei diese weiteren ökonomischen Handlungen als Wachstum auch weitere und zusätzliche Umweltauswirkungen erzeugen. „Effizienz“ dient damit zuerst nicht der Reduktion von Umweltauswirkungen des (ökonomischen) Handelns. Aus der Perspektive einer schnellen Reduktion von THG-Emissionen bedeutet Effizienz daher stattdessen die (politisch gestaltete) Vermeidung von Wachstum an anderem Ort. In dieser im iKSP (2017) formulierten Annahme zur „Effizienz“ werden die beiden anderen wesentlichen Handlungsansätze ausgelassen, mit denen Effizienz im Verbund eine relevante Reduktion der 93 94 Umweltauswirkungen (ökonomischen) Handelns ergäbe: Konsistenz und Suffizienz . Durch ihre explizite Auslassung an dieser Stelle entsteht der Eindruck, sie seien nicht als Handlungsmöglichkeiten der Landesregierung oder anderer Akteure in Hessen vorgesehen. 89 ...also abgeschrieben – siehe Levin K, Cashore B, Bernstein S, Auld G (2012) Overcoming the tragedy of super wicked problems: constraining our future selves to ameliorate global climate change. Policy Sci. 45: 123-152, https://doi.org/10.1007/s11077-012- 9151-0. 90 Abschätzungen, dass das Optimum wirtschaftlichen Handelns irgendwo bei +5 °C Erderwärmung oder einer anderen weit in der Zukunft verorteten Zahl liegen mögen, entbehren jeder Basis, siehe Keen S (2020) The appallingly bad neoclassical economics of climate change. Globalizations, https://doi.org/10.1080/14747731.2020.1807856. Als Einführung in die Herausforderung gestaltender Wirtschaftspolitik z.B. Hall CAS, Klitgaard K (2018) Energy and the Wealth of Nations. An Introduction to Biophsical Economics. Springer. Cham oder Palmer G, Floyd J (2020) Energy Storage and Civilisation. Springer, Cham. 91 Eher als Anregung eine kleine Leseliste: Frantzeskaki N, Hölscher K, Holman IP, et al (2019) Transition pathways to sustainability in greater than 2 °C climate futures of Europe. Regional Environmental Change 19:777-789, https://doi.org/10.1007/s10113-019-01475-x. Palmer G, Floyd J (2020) Energy Storage and Civilisation. Springer, Cham. Sgouridis S, Csala D, Bardi U (2016) The sower's way: quantifying the narrowing net-energy pathways to a global energy transition. Environmental Research Letters 11, https://doi:10.1088/1748-9326/11/9/094009. Capellán-Pérez I, de Castro C, Gonzáles LJM (2019) Dynamic Energy Return on Energy Investment (EROI) and material requirements in scenarios of global transition to renewable energies. Energy Strategy Reviews 26: 100399, https://doi.org/10.1016/j.esr.2019.100399 Göpel, M (2020) Unsere Welt neu denken. Eine Einladung. Ullstein. 92 Neben Methan und Lachgas stellen Kältemittel und Fluorverbindungen relevante THGs mit z.T. extrem langfristiger Wirkung dar. Methan ist direkt, Lachgas über den Anbau von Energie-Pflanzen ggf. mit der Bereitstellung von Energie verbunden. 93 Konsistenz meint z.B. das Nicht-Vermischen von Stoffen und ist damit eine Grundlage des Wirtschaftens in geschlossenen Stoffströmen und damit einer Circular Economy, die dann z.B. THG-Emissionen aus der Extraktion und Bereitstellung jungfräulicher Rohstoffe nennenswert reduziert, wenn das gesellschaftliche Lager (stock) dieser Rohstoffe zudem nicht weiter anwächst (Effizienz). 94 Suffizienz meint das bewusste Reduzieren auf das Notwendige. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 27 Effizienz ohne Konsistenz und Suffizienz zu betrachten ist richtig für Sektoren, in denen noch erhebliche 95 Effizienzpotentiale bestehen . Da Effizienzsteigerung jedoch Potential für weiteren Energie- und Ressour- cenverbrauch in anderem Zusammenhang eröffnet, also üblicherweise nicht einfach zu einer Reduktion von 96 THG-Emissionen führt (Jevons-Paradox) , ist dies in der Regel alleine nicht ausreichend. Zur Diskussion der Verlagerung von Emissionen in einer globalen Wirtschaft, siehe auch die Betrachtung der Bilanzgrenzen in diesem Bericht. Die schnelle und durchdringende Umstellung der (hessischen) Energieversorgung auf regenerative Energiequellen ist eine zentrale notwendige Handlung. Zwar hat die Bundesregierung negative Emissionen 97 98 verbindlich zugesagt , es steht jedoch nicht zu erwarten, dass dies umgesetzt wird . Die Kombination von fossilen Energieträgern mit Carbon Capture and Storage (CCS) ist unter heutigen Bedingungen nicht am Markt durchsetzbar. Hierbei ist das fehlende „level playing field“ der so bereitgestellten Energie nur ein 99 Hinderungsgrund, weitere sind technische Erwägungen und notwendige Risikobetrachtung, so dass die Umsetzung von CCS heute nicht wahrscheinlich erscheint. 100 Implizit liegt der THG-Berichterstattung zumeist das Territorialprinzip zu Grunde (Annahme 19) . Allerdings werden dadurch Emissionen entlang von Lieferketten nicht berücksichtigt. Ein Lebensweg-Prinzip, dass alle Flüsse über Grenzen berücksichtigt, wird jedoch benötigt, um Auswirkungen von Entscheidungen oder 101 Handlungen sinnvoll zu bewerten . Nur wenn alle Emissionen, die mit dem Wirtschaften in Hessen verbunden sind, bilanziert werden (unabhängig davon, wo sie erfolgen) können Maßnahmen in ihrer Wirkung 102 ganzheitlich bewertet werden . Das verwendete Territorialprinzip führt z.B. zu den Diskussionen im Abschnitt 2.2 iKSP (2017), in dem die Verlagerung von Industrie von Hessen, insbesondere in den globalen Süden, nicht mehr mit in die Bilanz einbezogen wird: Die De-Industrialisierung Hessens wird hier implizit als 103 Erfolg gefeiert , obwohl sie lediglich die Verlagerung der Umweltauswirkungen an einen anderen Ort darstellt. Gleichzeitig reduziert diese Form der Bilanzierung mögliche messbare Erfolge eines Klimaschutzes: Durch diese Systemgrenze sind Wirkungen, Maßnahmen und Zusammenarbeit der Landesregierung in Bund, in der EU oder global nicht vorgesehen, bzw. können nicht abgebildet werden. Dieser Fokus erscheint auch im Hinblick auf die eigentlich global vernetzte und oft von global agierenden Akteuren gelenkte hessische Wirtschaft unangemessen. 104 Eine frühzeitige Anpassung an Klimarisiken (Annahme 17) kann Schäden reduzieren . D.h. umgekehrt führen unzureichende und verspätete Maßnahmen zu vermeidbaren Schäden. Aus diesem Grunde ist die robuste und verlässliche Vorhersage von Veränderungen in Hessen, sowie globale Veränderungen, die auf Hessen wirken, aufgrund des Klimawandels notwendig. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, was 95 Einige von uns forschen aktiv in diesem Feld und wissen, dass es diese Effizienzpotentiale dort gibt. 96 Smil V (2017) Energy and Civilization. A History. MIT Press, Cambridge 97 https://unfccc.int/process-and-meetings/the-paris-agreement/the-paris-agreement 98 Hansen J & Kharecha P (2018) Cost of Carbon Capture: Can Young People Bear the Burden? Joule 2: 1396-1409. https://doi.org/10.1016/j.joule.2018.07.035 99 Forschung im großen Maßstab zu CCS findet international nicht statt. Alle seinerzeit gestarteten Projekte sind eingestellt oder auf Eis gelegt. Siehe aber Beerling DJ, Kantzas EP, Lomas MR et al. (2020) Potential for large-scale CO2 removal via enhanced rock weathering with croplands. Nature 583: 242-248, https://doi.org/10.1038/s41586-020-2448-9 zum aktuellen Potential hier in Deutschland über Verwitterung von vulkanischem Gestein (Vogelsberg, Taunus). Ein wesentlicher Hinderungsgrund sind dabei die Kosten, also z.B. indirekt der Preis für die Emission von Kohlendioxid. Die Kosten für CCS liegen deutlich über denen für die Emission von Kohlendioxid, so dass diese Technik heute nicht tragfähig ist; siehe z.B. Hansen J & Kharecha P (2018) Cost of Carbon Capture: Can Young People Bear the Burden? Joule 2: 1405-1407. https://doi.org/10.1016/j.joule.2018.07.035 100 Z.B. der BISKO Standard, der auch in hessischen Kommunen verwendet wird: https://www.ifeu.de/projekt/klimaschutz-planer/ 101 Zur Methode z.B. Haberl H (2001) The Energetic Metabolism of Societies Part I: Accounting Concepts. Journal of Industrial Ecology 5: 11-33, https://doi.org/10.1162/108819801753358481. 102 Zu einer Energiewende unter starken Klima-Rahmenbedingungen z.B. Sgouridis S, Csala D, Bardi U (2016) The sower's way: quantifying the narrowing net-energy pathways to a global energy transition. Environmental Research Letters 11. https://doi:10.1088/1748-9326/11/9/094009. 103 Was seltsam anmutet bei dem Fokus auf „Ökonomie“. 104 Schäden gemessen z.B. in Produktionsausfällen, finanziellen Schäden durch zerstörte Infrastruktur und Gebäude, Schäden als Todesfälle, körperliche oder psychische Trauma, Years Of Life Lost (YOLL) oder Disability Adjusted Life-time (DALY). S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 28 „frühzeitig“ bedeutet. Frühzeitige Anpassungen hätten z.B. mit Regionalplänen und Bebauungsplänen in den 105 1980iger Jahren vorgeschrieben werden können . Jetzt geht es darum, schnellstmöglich absehbare Schäden zu minimieren und uns auf eintretende massive 106 Veränderungen geeignet vorzubereiten . Das Wort „frühzeitig“ muss daher durch „extrem dringlich“ ersetzt 107 werden . Extrem dringlich, da inzwischen Menschen in Deutschland gesundheitliche Folgen des 108 Klimawandels erleiden oder an den Folgen des gerade erst einsetzenden Klimawandels sterben und weiteres Abwarten gegenüber den jetzt hier lebenden genauso unethisch ist, wie gegenüber zukünftigen Generationen. 3.5 Ausblick Wir hoffen, dass die Gelegenheit der Fortschreibung des IKSP genutzt wird, um die Bedeutung der Auswirkungen aus dem Klimawandel für die Menschen und die staatliche Ordnung in Hessen zu erfassen und die Priorisierung von Politikzielen entsprechend anzupassen. Wissenschaft und Zivilgesellschaft sind sicher geeignete Partner für einen echten, undogmatischen und zielorientierten Diskurs. Jedoch werden diese Akteure geeignete Zielvorgaben benötigen, damit in einer Fortschreibung dann Maßnahmen entwickelt werden, die erheblich zur Zielerreichung beitragen. Im letzten iKSP (2017) waren die Erwartungen an den Maßnahmenkatalog, dass er rein freiwillig umgesetzt werden kann und das Land selbst nicht gestalten muss, er kurz- bis mittelfristige Gewinnerwartungen von Unternehmen nicht reduziert, er kurz- und mittelfristig weiter Wirtschaftswachstum priorisiert: Dass der Katalog dann ungenügend im Hinblick auf die formulierten Ziele ausfiel, war zu erwarten. Damit die Fortschreibung des iKSP wesentlich zumindest zu den verbindlich gesetzten Zielen des Klimaschutzes sowie zu einer angemessenen Klimaanpassung beiträgt, werden einem eventuellen zukünftigen Beteiligungs- prozess klare Zielerwartungen gegeben werden müssen. Diese könnten sein: Identifizierung von Maßnahmen, die im Zeitrahmen wesentliche Beiträge liefern – Fokus auf große, umfangreiche oder schnell skalierbare Maßnahmen. Zusammentragen von Maßnahmen, die gemeinsam im Zeitrahmen die Ziele ermöglichen – durch Quantifizierung der einzelnen Beiträge. Identifizierung von Handlungsoptionen und notwendigen Handlungen der wesentlichen Akteure. Identifizieren der notwendigen Handlungen des Landes im Sinne einer ermöglichenden Planung und Gesetzgebung. Wir erhoffen uns aus diesem Diskurs und einer auf die Abläufe in der physischen Welt basierenden Haltung die Übernahme der Verantwortung für die Menschen in Hessen, wie sie geboten ist. Das daraus auch eine Verantwortung für die Gesellschaft, soziale Verantwortung für schwache und besonders gefährdete Menschen, sowie für die wirtschaftlichen Grundlagen des Landes folgt, ist offensichtlich; trotzdem deutet dies nach unserem Verständnis eine dringend notwendige neue Perspektive an. 105 Hessen hat einen beeindruckenden Anteil an Infrastruktur, der in offensichtlich schon immer stark risikobehafteten Gebieten, wie Überflutungsbereichen von Flüssen, ehemaligen Sümpfen, o.ä. gebaut wurde. Klassische Wachstums-Koalitionen auf regionaler Ebene platzieren auch weiter Menschen und Werte in Hoch-Risiko-Zonen und bereiten so zumindest fahrlässig Katastrophen vor. Siehe dazu z.B. Tierney K (2014) The social roots of risk. Producing Disasters, promoting Resilience. Stanford University Press. 106 Zur Geschwindigkeit und zur Intensität z.B. Steffen W, Rockström J, Richardson K et al. (2018) Trajectories of the Earth System in the Anthropocene. PNAS: 115 (33) 8252-8259, https://doi.org/10.1073/pnas.1810141115. 107 Und „extrem dringlich“ meint Umsetzung innerhalb von Monaten, nicht Jahrzehnten. 108 Laut Watts N, Amann M, Arnell N et al. (2020) The 2020 report of The Lancet Countdown on health and climate change: responding to converging crises. The Lancet https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)32290-X ist Deutschland besonders betroffen bei Hitzetoten und den damit verbundenen wirtschaftlichen Kosten. So starben in Deutschland im Jahr 2018 etwa 20.200 Menschen an den Folgen der Hitzewellen. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 29 4 Bedeutung des globalen Klimawandels für Hessen. Der Abschnitt 1 des iKSP (2017) stellt einen Stand der Forschung aus der Zeit der Vorbereitung des Berichtes 109 zu Klimawandel global und in Hessen dar , dabei sind die genutzten wissenschaftlichen Quellen leider nicht vollständig angegeben. Dies macht eine Bewertung oder Nutzung der Daten schwierig. Mehrere Einflüsse sorgen dafür, dass sich Projektionen über erwartete Auswirkungen des Klimawandels global und für Hessen stetig ändern: Klimamodelle werden weiterentwickelt. Die genutzten Szenarien der Treibhausgas-Emissionen werden an die tatsächliche Entwicklung angepasst. Das tatsächliche Klima verändert sich gerade sehr schnell und teilweise in nicht erwarteten Formen, dies hat Einfluss auf Berechnungen und Modelle. Aktuellere Prognosen werden daher andere Ergebnisse liefern, als ältere. Aus diesem Grund bewerten wir nicht die im iKSP (2017) enthaltenen Daten, sondern blicken auf die aktuell bereitgestellten Daten, den Prozess und Schlussfolgerungen. 4.1 Klimaprojektionen Alle Akteure in Hessen benötigen für ihre Planungen und ihr Handeln den Zugriff auf Projektionen der Änderungen des Klimas in Hessen. Daher sind die unter https://www.hlnug.de/themen/klimawandel-und- anpassung bereitgestellten Daten extrem wichtig. Umgekehrt ist es aus mehreren Gründen wesentlich, dass die hier zusammengefassten Daten wissenschaftlich belastbar und aktuell sind, denn Klimaanpassung benötigt für alle Akteure belastbare Projektionen, um zu beurteilen, auf welche Änderungen sie sich in welcher Geschwindigkeit anpassen müssen. Risikobetrachtungen aller Akteure benötigen belastbare Projektionen, die auch sekundäre Effekte im Klimawandel mit berücksichtigen. Ziele des Klimaschutzes (also Reduktion der durch Hessen verursachten THG-Emissionen) müssen mit tatsächlichen Veränderungen und wahrscheinlichsten Veränderungen abgeglichen werden können. 110 Hierbei sollten die heute dargestellten Aspekte entsprechend der Bedürfnisse wichtiger Sektoren und Akteure in geeigneter Weise erweitert werden. Für Land- und Forstwirtschaft sind Informationen zu 111 pflanzenverfügbarem Wasser und Dürreperioden relevant . Für Schifffahrt und Wasserkraft sind Projektionen zum Abfluss der großen Flüsse von Bedeutung usw. 4.2 Wie belastbar sind die Klimaprojektionen? Exemplarisch soll die Belastbarkeit der Projektionen mittels einfacher Abschätzungen überprüft werden. Abbildung 3 stellt als Beispiel relevante mittlere Daten der Temperatur und des Niederschlags für die 112 Wetterstationen in Darmstadt in einem Klimadiagramm dar. Die Daten vergleichen drei Zeiträume: 109 Dabei ergeben sich die als aus heutiger Sicht extrem beruhigend anzusehenden Befunde, wie sie in Alcano J, Olesen JE (2012) Life in Europe Under Climate Change. Wiley dargestellt sind: Z.t entsprechen die heutigen Zustände bereits Prognosen für die zweite Hälfte des 21.Jhd. 110 Jahresmitteltemperatur, Mittlerer Niederschlag und Saisonale Variation, Sommertage, Hitzetage, Frosttage, siehe https://www.hlnug.de/themen/klimawandel-und-anpassung/klima-und-klimawandel/klimaprojektion-hessen 111 Der Dürremonitor unter https://www.ufz.de/index.php?de=37937 stellt nur einen Ist-Zustand dar. 112 Klimadiagramme stellen die mittlere monatliche Temperatur und den mittleren monatlichen Niederschlag gemeinsam dar, wobei es üblich ist, 10 °C einem Niederschlag von 20 mm zu entsprechen [Walter H (1977) Vegetationszonen und Klima. Ulmer, Stuttgart.. Durch diese Darstellung werden erwartete Trockenperioden direkt erkennbar. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 30 1. Der Zeitraum von 1931 bis 1999 kann als Referenzzeitraum angesehen werden. Er hat eine Durch- schnittstemperatur von 9,5 °C und einen mittleren Niederschlag von 710 mm mit klarem Sommer- maximum. Infrastruktur sowie Land- und Forstwirtschaft sind auf dieses Klima eingestellt. In sehr vielen Regularien und Normen, in Lehrbüchern, in Berechnungen und Auslegungen für Bauwerke und Anlagen wird dieses Klima zumeist implizit als Umgebungsbedingung vorausgesetzt. 2. Der Zeitraum 2000 bis 2019 mit einer mittleren Temperatur von 10,5 °C und einem grundsätzlich vergleichbaren Niederschlagsregime. 3. Die Dürrejahre 2018 bis 2020 mit einer mittleren Temperatur von 11,3 °C und 620 mm Niederschlag mit klarem Sommerminimum. Das Wetter des Zeitraums 3 – die letzten drei Jahre 2018-2020 – stellt damit in etwa die im iKSP erwartete Klimaänderung für die Mitte oder das Ende des 21. Jhd. dar, wobei die beobachtete Änderung des 113 Niederschlages bereits wesentlich über die dort kommunizierte worst-case Prognose hinausgeht . Dies wirft erhebliche Fragen zur Belastbarkeit der Prognosen aus dem iKSP (2017) auf. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die absehbare Änderung der globalen und lokalen mittleren Temperatur. In Abbildung 4 ist der bisherige mittlere globale Temperaturverlauf dargestellt, sowie mögliche weitere globale Temperaturverläufe, abhängig von ergriffenen Maßnahmen zum Klimaschutz. Da der Temperaturanstieg in den Daten von Abbildung 4 über die gesamte Erde gemittelt ist und die Erderwärmung regional ganz unterschiedlich abläuft, kann der aktuelle mittlere Temperaturanstieg von etwa 0,025 °C pro Jahr nicht einfach auf Hessen übertragen werden. Der Temperaturanstieg findet vorrangig über Land statt und stärker in arktischen Regionen. Als erste grobe Abschätzung kann die 114 doppelte Steigerung über Land angesetzt werden. Dies entspricht 0,05 °C pro Jahr in Hessen . Dies deckt sich gut mit den Wetter-Daten aus Abbildung 3. 50,0 100 45,0 90 historisch: 40,0 Sommermaximum 80 35,0 70 30,0 60 25,0 50 20,0 40 15,0 30 aktuell: 10,0 Sommerminimum mit Dürre 20 5,0 10 0,0 0 Jan Feb Mar Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez 1931 bis 1999 2000 bis 2017 2018 bis 2020 1931 bis 1999 2000 bis 2017 2018 bis 2020 115 Abbildung 3 – Klimadiagramm für Darmstadt, historische Daten . Die seit 2018 durchgängig zu beobachtende Sommerdürre stellt den Übergang in ein neues Klima und damit neue Vegetationszonen in Hessen dar. 113 https://www.hlnug.de/themen/klimawandel-und-anpassung/klima-und-klimawandel/klimaprojektion-hessen 114 Da Hessen auf 50 ° liegt und die Pole sich viel schneller erwärmen, als die Tropen – diese aber die Landflächen dominieren, wäre auch eine noch höhere Steigerungsrate für Hessen durchaus möglich und angemessen. 115 https://opendata.dwd.de/climate_environment/CDC/observations_germany/climate/monthly/kl/historical/ S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 31 Abbildung 4 – Gemessene mittlere Temperatur der Erde sowie mögliche Szenarien und ihre Rückwirkungen auf menschliche Gesellschaften – dies hat auch Auswirkungen in Hessen. Abbildung 5 – Zusammenhang zwischen globale THG-Emission in Kohlenstoff-Masse als CO2-Äquivalent und 116 erwartete mittlere globale Temperatur im Jahr 2100. 116 IPCC, 2014: Climate Change 2014: Synthesis Report. Contribution of Working Groups I, II and III to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. IPCC, Geneva. https://www.ipcc.ch/report/ar5/syr/ S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 32 Es scheint zwar, dass die anthropogene Emission von THG zur Zeit etwa konstant ist und aus dieser primären Quelle der Veränderung des Wachstums der mittleren Temperatur der Erde kein großer zusätzlicher Anstieg der Wachstumsrate zu erwarten ist, dafür setzen jedoch gerade deutlich sekundäre Emissionen ein, die 117 insgesamt die Freisetzung von THG beschleunigen können . Die aus der Emission von THG in die Atmosphäre erfolgende primäre Erwärmung der Atmosphäre erreicht ihr Maximum etwa 10 Jahre nach der Emission, wenn keine sekundären Effekte eintreten. D.h. die aktuelle Temperatur der Atmosphäre ist vorrangig das Ergebnis von historischen Emissionen oder aber die bis zum heutigen Tage freigesetzten Emissionen bestimmen die Dynamik der Klimaänderung in den nächsten 118 Jahren . Dieser Aspekt ist insbesondere für die Kommunikation von Klimaschutzmaßnahmen von Bedeutung. Extrapoliert man den heute beobachteten Temperaturanstieg für Hessen linear in die Zukunft, so erhält man als Schätzung einen Temperaturanstieg in 2050 für Hessen um 3,5 °C gegenüber dem Referenzzeitraum oder 1,5 °C gegenüber dem Jahr 2019. Ein deutlich geringerer Anstieg ist kaum zu erwarten, da er zwei Grundvoraussetzungen benötigte: a) Zuerst müsste die direkte anthropogene Emission von THG – wie in dem COP 21 zugrundeliegenden 1,5 °C Ziel gefordert, im Jahr 2030 enden und b) zum zweiten dürften keine substantiellen sekundären Emissionen aus dem System Erde erfolgen. Die erste Annahme widerspricht der aktuellen politischen Situation – auch der Umsetzung in der 119 Bundesrepublik Deutschland . Die Hindernisse für Hessen werden in Kapitel 3 analysiert. Die zweite Annahme widerspricht aktuellen Beobachtungen. Ein deutlich schnellerer Anstieg der Temperatur hier in Hessen ist insbesondere durch sekundäre Emissionen aus Feedbacks im System Erde möglich. Dieser Anstieg ist laut den Projektionen für das „business as usual“ Szenario RCP 8.5 erst im Jahr 2100 zu erwarten, setzt aber erkennbar bereits heute ein. Beide Betrachtungen legen nahe, dass die heute kommunizierten Projektionen die Dynamik des Klimawandels in Hessen nicht gut erfassen oder kommunizieren. Hier besteht massiv Erklärungs- und Verbesserungsbedarf. 4.3 Auswirkung des Klimawandels auf die Vegetation in Hessen Mitteleuropa hatte im Referenzzeitraum ein ozeanisch bis kontinentales, gemäßigtes Klima. Die potentielle 120 Vegetation war damit nahezu durchgehend Wald . Hessen ist noch durchgehend von Rotbuchenwäldern dominiert. Im Ried war die potentielle Vegetation z.T. Kiefernwälder, auf einigen Standorten dominierten Eichen und in den Mittelgebirgen z.T. Nadelhölzer. Mit dieser breiten Variation an Standortbedingungen war eine weite Variation von forst- und landwirtschaftlicher Nutzung möglich, deren optimale Form standortabhängig von Böden und Mikroklima beeinflusst wurde. Das Klimadiagramm des Referenzzeitraums 121 aus Abbildung 3 für Darmstadt entspricht nahezu idealtypisch dieser Vegetationszone . 117 Z.B. Wunderling N, Donges JF, Kurths J, Winkelmann R (2020) Interacting tipping elements increase risk of climate domino effects under global warming. Earth System Dynamics, https://doi.org/10.5194/esd-2020-18. 118 Der Zeitverzug zwischen Emissionen und Umsetzung in Erwärmung ist z.B. in Lowe J, Jones C, Chadwick R et al. (2019) MET Office Briefing note on time lags in the climate system, https://www.theccc.org.uk/publication/briefing-note-on-time-lags-in-the-climate- system-met-office/ dargelegt. Während kurzlebige THG (z.B. Methan) bei Null-Emissionen schon nach 10 Jahren deutlich gesunken sind, ist für CO2 ein dynamisches Gleichgewicht zu betrachten, das u.a. die CO2-Aufnahme im Ozean mit CO2-Freisetzung aus dem Ozean verrechnet. Die Modelle geben derzeit noch kein ganz eindeutiges Bild, aber (Zitat aus der genannten Quelle) "In summary, this section highlights that even very rapid reductions in CO2 emissions may not lead to rapid reductions in atmospheric concentrations of CO2. Even when reductions in CO2 concentration occur, the global temperature response will still take decades or more to fully respond." Der Zeitverzug zwischen Emissionen und Umsetzung des Erwärmungssignals kann also größer sein, als 10 Jahre. 119 Climate Action Tracker (2019) Governments still showing little sign of acting on climate crisis. https://climateactiontracker.org/press/global-update-governments-showing-little-sign-of-acting-on-climate-crisis/ 120 Eine detaillierte Beschreibung des Referenzzustandes der Vegetation in Mitteleuropa einschließlich der Eingriffe durch menschliches Wirtschaften gibt Ellenberg H (1986) Vegetation Mitteleuropas mit den Alpen. Ulmer, Stuttgart. 121 Walter H (1977) Vegetationszonen und Klima. Ulmer, Stuttgart. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 33 Typisch für das gemäßigte Klima mit Laubwald-Vegetation ist ein deutlicher Temperaturgang mit eindeutigem Winter sowie einem deutlichen Maximum der Niederschläge im Sommer. In diesem Klima stellen Dürreperioden außerordentliche Ereignisse dar – die Vegetation hat immer die Möglichkeit, sich von 122 Dürrejahren vollständig zu erholen . Das Wetter der Jahre 2018 bis 2020 stellt ein grundsätzlich anderes Klima dar, es ist nicht einfach eine leichte 123 124 Variation des bisherigen . Es entspricht gut dem mediterranen Klima Norditaliens . Kennzeichen ist ein deutlicher Jahresgang der Temperatur, wobei dieser einige wenige °C höher abläuft, als der der gemäßigten Zonen. Die etwa 2 °C Differenz gegenüber dem Temperaturlauf im Referenzzeitraum stellen eine deutliche 125 Änderung dar . Ein weiteres Kennzeichen mediterranen Klimas oder auch eines Steppenklimas ist, dass der Niederschlag sein Maximum im Winter hat. Daraus folgt eine mehr oder weniger deutlich ausgeprägte 126 sommerliche Dürreperiode . Diese Dürreperiode definiert zusammen mit dem gesamten jährlichen Niederschlag dann die potentiell mögliche Vegetation hier in Hessen: Je nach Stärke der Dürreperiode und Standort stellt dann neben Wald auch Steppe oder Buschland die potentielle Vegetation dar. Dabei ist nicht der Niederschlag alleine oder seine Verteilung über das Jahr von Bedeutung. Weitere Effekte, die die sich ausbildende und sich im Klimawandel verändernde mögliche Vegetation direkt beeinflussen und die daher in Projektionen berücksichtigt werden müssen, sind: Höhere Temperatur führt zu deutlich höherer Verdunstungsrate, so dass konstanter Niederschlag in Hessen also bereits eine deutliche Reduktion des tatsächlich nutzbaren Wassers darstellt. Die großräumige Interaktion zwischen Luftströmungen, Vegetation und Niederschlag im 127 europäischen und globalen Kontext wird einen Einfluss auf die Verfügbarkeit von Wasser haben. Veränderungen von Böden, Speichervermögen von Böden, Fließverhalten in Gewässern usw. wird die im Sommer verfügbare Feuchtigkeit für Vegetation weiter beeinflussen. Durch höhere Temperaturen auch im Winter beginnt der phänologische Frühling im Mittel bereits 10-14 Tage früher als zur Klimareferenzperiode (siehe Abbildung 7) womit sich die Vegetations- periode verlängert und Pflanzen bereits früher im Jahr den Bodenwasservorrat nutzen, so dass das 128 pflanzenverfügbare Wasser im Boden auch früher im Jahr erschöpft ist . 4.4 Land- und Forstwirtschaft Insbesondere die Buche, Fichte, Tanne aber auch weitere Baumarten des mitteleuropäischen Waldes sind grundsätzlich nicht in der Lage, regelmäßige Sommerdürren zu überstehen. Das gleiche gilt für viele der Nutzpflanzen, die heute passend für ein gemäßigtes dürrefreies Klima ausgewählt wurden. Damit stehen die Grundlagen einer geregelten Forstwirtschaft unter heutigen Prämissen in Hessen 129 grundsätzlich zur Disposition . Forstwirtschaft benötigt planbare natürliche Prozesse. Insbesondere muss sie davon ausgehen, dass Wälder oder Bäume ein ausreichendes Alter erreichen, bevor sie geerntet werden. Damit müssen in den Wäldern ausreichende Mengen an jungen Bäumen existieren, die mit der gesamten Spanne des über ihr erwartetes Lebensalter hin erwarteten Wetters 122 Walter H, Breckle S-W (1986) Ökologie der Erde Band 3: Spezielle Ökologie der gemäßigten und Antarktischen Zonen Euro- Nordasiens. Gustav Fischer, Stuttgart. 123 Klima ist üblich definiert der Mittelwert des Wetters über einen Zeitraum von zumindest 30 Jahre. Allerdings ist diese Definition zurzeit schwierig: Die gerade ablaufende Erderwärmung läuft so schnell ab, dass es keine Mittelwerte über ein 30 Jahre lang etwa konstantes Klima geben kann. In 30 Jahren ändert sich die mittlere Temperatur der Erde z.Zt. um etwa 0,75 °C. 124 Walter H, Breckle S-W (1991) Ökologie der Erde Band 4: Gemäßigte und Arktische Zonen außerhalb Euro-Nordasiens. Gustav Fischer, Stuttgart. 125 Z.B. Ellenberg H (1986) Vegetation Mitteleuropas mit den Alpen. Ulmer, Stuttgart, Abb. 4b. 126 Daten zur Pflanzenverfügbarkeit von Wasser im Boden beim Dürremonitor https://www.ufz.de/index.php?de=37937 127 Vegetation als Voraussetzung für ausreichenden Niederschlag im Binnenland, siehe z.B. Makarieva AM, Gorshkov V, Bain-Lian Li (2013) Revisiting forest impact on atmospheric water vapor transport and precipitation. Theor. Appl. Climatol. 111:79-96. https://doi.org/10.1007/s00704-012-0643-9. 128 Lian, X. et al. (2020) Summer soil drying exacerbated by earlier spring greening of northern vegetation. Science Advances 6. DOI: 10.1126/sciadv.aax0255 129 Auch wenn 0,05 °C pro Jahr sich wenig anhören, dies entspricht aus der Position von langlebigen Bäumen dem Wechsel einer oder mehrerer Klimazonen alleine bis zum Erreichen der Geschlechtsreife. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 34 zurechtkommen. Bereits eine extreme Dürre, Flut oder Frost zur falschen Zeit kann einen Baum 130 töten . Unter der Voraussetzung, dass der Klimawandel zukünftig weiter Wälder in Hessen zulässt gilt, dass vielfältige Wälder widerstandsfähiger sind, als Monokulturen. Die nicht bewässerte Landwirtschaft in Hessen steht vor großen und andauernden Veränderungen. Landwirte müssen ihre Fruchtfolgen den Möglichkeiten des erwarteten Wetters für das Jahr anpassen. Dies müssen sie – wenn ausreichende Daten zur Verfügung stehen – jedes Jahr aufs Neue machen. Damit dies gelingt, muss das geeignete Saatgut in ausreichender Menge zur Verfügung stehen. Allerdings ist diese Variationsmöglichkeit durch die diversen Randbedingungen für ertragreiches Pflanzenwachstum und lokalen Gegebenheiten nicht beliebig möglich. Abbildung 6 zeigt als eine der fixen Randbedingungen die solare Einstrahlung; deutlich wird, dass nicht alle Land- und Forst-Wirtschaftsformen oder Nutzpflanzen aus südlicheren Klimazonen einfach nach Hessen verpflanzt werden können, da ihnen möglicherweise in den Wintermonaten nicht ausreichend Sonnenlicht zur Verfügung steht. Die Sonneneinstrahlung ist für Hessen über das Jahresmittel konstant und wird sich in Zukunft nicht signifikant ändern. Andere Randbedingungen sind dynamisch, wie die Verdunstungsrate, temperaturabhängiger Stoffwechsel in den Pflanzen, Zugänglichkeit von Nährstoffen im Boden. Bewässerte Landwirtschaft ist dann eine Möglichkeit, einige Beschränkungen zu umgehen, wenn ausreichend Wasser zur Verfügung steht. Entnahme aus Flüssen oder vorhandenen Speichern ist nur begrenzt möglich. Vorhandene Drainagen von land- und forstwirtschaftlich genutzten Flächen sollten geprüft und in vielen Fällen deaktiviert werden, um den Abfluss zu minimieren. Grundsätzlich wäre eine Umgestaltung von Landschaft denkbar, in der zusätzliche Speichermöglichkeiten aufgebaut werden. Letztendlich wäre dies eine Umgestaltung Hessens in eine hydrologische Landschaft und Kultur. Land- und Forstwirtschaft benötigen für eine Klimaanpassung daher möglichst belastbare Projektionen zur erwarteten Klimadynamik, aber auch Informationen über Nutzpflanzen, die unter bestimmten Klimaregimes 131 gute Erträge liefern können. Dabei gilt es Liebigs Gesetz des Minimums nicht aus den Augen zu verlieren . Für die Landwirtschaft sind zwei weitere Effekte von großer Bedeutung: Höhere Temperatur bedeutet eine höhere Umsatzrate des Stoffwechsels von Pflanzen unabhängig davon, ob Photosynthese stattfindet. Dieser zusätzliche interne Verbrauch kann in warmen Nächten und warmen Wintern Vorräte verbrauchen und so den Ertrag deutlich beeinträchtigen. Zunehmende CO2-Konzentration in der Atmosphäre reduziert den Gehalt an wertvollen Bestandteilen in 132 Früchten und Blättern – Nahrungsmittel werden weniger nahrhaft . Beide Effekte machen es schwieriger für die globale und die heimische Landwirtschaft auch in der Zukunft 133 ausreichend gute Lebensmittel für die Versorgung der Bevölkerung zu erzeugen . Im Hinblick auf Klimaziele 130 Viele Wälder werden, anders als bisher, nicht mehr als Strukturen existieren, die sich über ein Menschenalter hinweg kaum verändern, sie werden stattdessen sehr dynamische Elemente in der Landschaft sein, die sich innerhalb kurzer Zeit deutlich umformen: Absterben von Arten, die plötzlich den Standort nicht mehr ertragen; neue Arten, die sich ggf. schnell dramatisch ausbreiten; großflächige Feuer; Übergang von heutigem Wald zu Steppe, Macchia, oder anderen standortgerechteren Formen. Dies führt neben den massiven Problemen wirtschaftlicher Art für Waldbesitzer und bei den bisher vorausgesetzten Ökosystem-Services unserer Wälder zu einem Gefühl der Fremdheit für viele Menschen – z.B. Albrecht G (2005) ‚Solastalgia‘ A New Concept in Health and Identity. Pan 3:41-55. 131 Dieses Gesetz des Minimums oder Liebigs Gesetz besagt, dass Pflanzenwachstum und damit Ertrag durch den essentiellen Faktor limitiert ist, der am weitesten vom Optimum der Pflanze entfernt vorliegt. Z.B. Mitscherlich AE (1909) Das Gesetz des Minimums und das Gesetz des abnehmenden Bodenertrages. Landwirtschaftliche Jahrbücher 38: 537–552. 132 Z.B. Medek DE, Schwartz J, Myers SS (2017) Estimated Effects of Future Atmospheric CO2 Concentrations on Protein Intake and the Risk of Protein Deficiency by Country and Region. Environmental Health Perspectives doi.org/10.1289/EHP41. Sowie Beach RH, Sulser TB, Crimmins A et al. (2019) Combining the effects of increased atmospheric carbon dioxide on protein, iron, and zinc availability and projected climate change on global diets: a modelling study. The Lancet Planetary Health 3: e307-e317, https://doi.org/10.1016/S2542-5196-30094-4, sowie Toreti, A., Deryng, D., Tubiello, F.N. et al. (2020) Narrowing uncertainties in the effects of elevated CO2 on crops. Nat Food 1, 775–782. https://doi.org/10.1038/s43016-020-00195-4 133 Und wir bezweifeln, dass Lebensmittel zukünftig jederzeit unbegrenzt aus anderen Erdteilen herbeigeschafft werden können. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 35 und die langfristige und verlässliche Versorgung der hessischen Bevölkerung ist es jedoch unbedingt 134 notwendig die heimische Landwirtschaft zu stärken . 50,0 45,0 40,0 35,0 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0 0 50 100 150 200 250 300 350 Tag des Jahres Nordpol Polarkreis Wendekreis Äquator Darmstadt Bologna Cordoba Kairo Abbildung 6 – Jahresgang des Integrals der täglichen solaren Einstrahlung oberhalb der Erdatmosphäre 135 als eine fixe Randbedingung für Forst- und Landwirtschaft . 136 Abbildung 7 – Bereits beobachtete Veränderung der Jahreszeiten in Hessen . 134 Fuchs R, Brown C, Rounsevell M (2020) Europe’s Green Deal offshores environmental damage to other nations. Nature 586, 671- 673. https://www.nature.com/articles/d41586-020-02991-1 135 Berechnet nach Curry JA, Webster PJ (1999) Thermodynamics of Atmospheres & Oceans. Academic Press, San Diego. 136 Quelle: HLNUG. Während der so definierte Frühlingsanfang im Wesentlichen von der Temperatur abhängt, ist das Ende des Herbsts vorrangig von verfügbarem Licht abhängig; dazu auch Yao Zhang, Commane R, Sha Zhou, Williams AP, Gentine P (2020) Light limitation regulates the response of autumn terrestrial carbon uptake to warming. Nature climate change 10: 739-743, https://doi.org/10.1038/s41558-020-0806-0. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 36 4.5 Gesundheit Die durch den Klimawandel verursachten gesundheitlichen Folgen werden in der Zukunft deutlich über die im iKSP (2017) aufgeführten hinaus in der Bevölkerung auftreten. Diese Unterschätzung der gesundheitlichen Risiken liegt möglicherweise an der Auswahl der Daten und Prognosen im iKSP (2017) (s.o.). Grundsätzlich berücksichtigt wurden sommerliche Hitzeperioden und die Ausbreitung von Vektoren, welche Vektorerkrankungen übertragen können. Weitere – im iKSP (2017) nicht berücksichtige – gesundheitliche 137 Risiken entstehen z.B. durch Luftverschmutzung, insbesondere durch Waldbrände auch in entfernteren Regionen. Allergien, Asthma, Atemwegserkrankungen z.B. durch invasive oder neue Arten, erhöhte Luftverschmutzung, verlängerte Pollenflugsaison. Verletzungen einschließlich psychischer Traumata durch Starkwetterereignisse. Verletzungen und psychische Traumata durch die Zunahme von Gewaltbereitschaft bei Hitze; dies betrifft auch häusliche Gewalt vorrangig gegenüber Frauen und Kindern. 137 Eine gute Einführung bietet Treidl-Hoffmann C (2020) Klimaresilienz – der Weg der Zukunft. Deutsches Ärzteblatt 117: 1556-1558. Die darin zitierte aktuelle Literatur ist: (1) Academy of Science of South Africa (ASSAf), Brazilian Academy of Sciences (ABC), German National Academy of Sciences Leopoldina, U.S. National Academy of Medicine (NAM), U.S. National Academy of Sciences (NAS): Air Pollution and Health. A Science-Policy Initiative. https://air-pollution.health. (2) Usher K, Durkin J, Bhullar N (2019) Eco-anxiety: How thinking about climate change-related environmental decline is affecting our mental health. Int J Ment Health Nurs 28: 1233–4. (3) Schneider A, Hampel R, Ladwig KH, et al. (2020) Impact of meteorological parameters on suicide mortality rates: A case-crossover analysis in Southern Germany (1990–2006). Sci Total Environ 707: 136053. (4) Dumont C, Haase E, Dolber T, Lewis J, Coverdale J (2020) Climate Change and Risk of Completed Suicide. J Nerv Ment Dis 208 (7): 559–65. (5) Wei W, Lu JG, Galinsky AD, et al. (2017) Regional ambient temperature is associated with human personality. Nat Hum Behav 1: 890–5. (6) Hahad O, Lelieveld J, Birklein F, Lieb K, Daiber A, Münzel T (2020) Ambient Air Pollution Increases the Risk of Cerebrovascular and Neuropsychiatric Disorders through Induction of Inflammation and Oxidative Stress. Int J Mol Sci 21: 4306. (7) Gasparrini A, Guo Y, Hashizume M, et al. (2016) Changes in Susceptibility to Heat During the Summer: A Multicountry Analysis. Am J Epidemiol 183: 1027–36. (8) Giorgini P, Di Giosia P, Petrarca M, Lattanzio F, Stamerra CA, Ferri C (2017) Climate Changes and Human Health: A Review of the Effect of Environmental Stressors on Cardiovascular Diseases Across Epidemiology and Biological Mechanisms. Curr Pharm Des 23: 3247–61. (9) Chen K, Breitner S, Wolf K, et al. (2019) Temporal variations in the triggering of myocardial infarction by air temperature in Augsburg, Germany, 1987–2014. Eur Heart J 40: 1600–8. (10) Chen K, Wolf K, Breitner S, et al. (2018) Two-way effect modifications of air pollution and air temperature on total natural and cardiovascular mortality in eight European urban areas. Environ Int 116: 186–96. (11) Gasparrini A, Guo Y, Sera F, et al. (2017) Projections of temperature-related excess mortality under climate change scenarios. Lancet Planet Health 1: e360–7. (12) Ertl M, Beck C, Kühlbach B, et al. (2019) New Insights into Weather and Stroke: Influences of Specific Air Masses and Temperature Changes on Stroke Incidence. Cerebrovasc Dis 47: 275–84. (13) Heuson C, Traidl-Hoffmann C (2018) Bedeutung von Klima- und Umweltschutz für die Gesundheit mit besonderer Berücksichtigung von Schädigungen der Hautbarriere und allergischen Folgeerkrankungen. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 61 (6): 684–96. (14) Eguiluz-Gracia I, Mathioudakis AG, Bartel S, et al. (2020) The need for clean air: The way air pollution and climate change affect allergic rhinitis and asthma. Allergy 10.1111/all.14177. (15) Helander ML, Savolainen J, Ahlholm J (1997) Effects of air pollution and other environmental factors on birch pollen allergens. Allergy 52 (12): 1207–14. (16) Ring J, Akdis C, Behrendt H, et al. (2012) Davos declaration: allergy as a global problem. Allergy 2012; 67 (2): 141–3. [published correction appears in Allergy 2012 May; 67 [5]: 712. multiple author names added] (17) D’Amato G, Annesi-Maesano I, Cecchi L, D’Amato M (2019) Latest news on relationship between thunderstorms and respiratory allergy, severe asthma, and deaths for asthma. Allergy 74: 9–11. (18) 18. Damialis A, Bayr D, Leier-Wirtz V, et al. (2020) Thunderstorm Asthma: In Search For Relationships With Airborne Pollen And Fungal Spores From 23 Sites In Bavaria, Germany. A Rare Incident Or A Common Threat? J Allergy Clin Immunol 145: AB336. (19) 19. Yu P, Xu R, Abramson MJ, Li S, Guo Y (2020) Bushfires in Australia: a serious health emergency under climate change. Lancet Planet Health 4: e7–8. (20) 20. Watts N, Amann M, Arnell N, et al. (2019) The 2019 report of The Lancet Countdown on health and climate change: ensuring that the health of a child born today is not defined by a changing climate. Lancet 394: 1836–78. (21) 21. Blauw LL, Aziz NA, Tannemaat MR, et al. (2017) Diabetes incidence and glucose intolerance prevalence increase with higher outdoor temperature. BMJ Open Diabetes Res Care 5: e000317. (22) 22. Symonds ME, Farhat G, Aldiss P, Pope M, Budge H (2019) Brown adipose tissue and glucose homeostasis – the link between climate change and the global rise in obesity and diabetes. Adipocyte 8: 46–50. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 37 138 Psychische Erkrankungen, psychische Traumata, Post-Traumatic-Stress-Disorder durch zunehmende Starkwetterereignisse, Gewalt, Flucht und Vertreibung. Reduzierte körperliche und geistige Leistungsfähigkeit bei Hitze. Psychische Störungen und Erkrankungen durch den Verlust von Heimat vor Ort, wenn sich die Heimat 139 bis zur Unkenntlichkeit verändert . Hinter diesen trockenen Aufzählungen verbergen sich jeweils persönliche Schicksale; oft wirken sich die Belastungen Einzelner auch auf ihre Angehörigen oder ihre Familie aus. Im Rahmen einer Risikobetrachtung müssen die zusätzlichen gesellschaftlichen Kosten durch Krankheit, Pflege, Leistungsminderung, Krankenzeit und Arbeitsausfall, Weitergabe von Traumata in die nächste 140 Generation usw. mit einbezogen werden, die durch mangelndes Handeln verursacht werden . 4.6 Globale Effekte Der Klimawandel ist eine grundlegende und absehbar in den nächsten Jahren, Jahrzehnten und Jahrhunderten ablaufende Veränderung des gesamten Systems Erde: Das System Erde hat das Holozän mit seinem nahezu konstanten Klima und nahezu konstanten Meeresspiegel verlassen und wird – bis dieser anthropogene Puls an Treibhausgasen das aktive System Erde (Ozeane und Atmosphäre) verlassen hat – eine außerordentlich dynamische Veränderung durchlaufen. Diese Veränderung wird sich regional sehr unterschiedlich zeigen, aber das regionale wird immer abhängig vom globalen sein und umgekehrt. Im Sinne einer relevanten Risikobetrachtung müssen klimatische Auswirkungen an anderem Ort auf Hessen mitberücksichtigt werden: Bei regionalen Klimaprognosen ist dies die implizite Grundlage, da regionale Modelle auf globale zurückgreifen. Die Veränderungen des globalen Klimas verändern heute und absehbar die Land- und Forstwirtschaft auch außerhalb Hessens. Dies hat Auswirkungen auf die Verfügbarkeit, zumindest aber auf den Preis von Lebensmitteln und Produkten. Klimaveränderungen in anderen Regionen können dort zu Instabilitäten oder Konflikten führen. Dies hat zumindest über globale Lieferketten Auswirkungen nach Hessen. Sei es, dass Unternehmen von Lieferanten oder Märkten abgeschnitten werden, oder dass Produkte (zeitweise) nicht mehr erstellbar oder nicht mehr verfügbar sind. Konflikte, sich verändernde Bodenfruchtbarkeit oder Verluste an landwirtschaftlichen Flächen können zu Fluchtbewegungen führen. Flucht kann zu weiteren Konflikten führen; Menschen werden versuchen, auch nach Hessen zu gelangen. Diese Auswirkungen und ihre destabilisierende Wirkung auf Hessen müssen als Teil einer relevanten Risikobewertung mitberücksichtigt werden. (23) Keesing F, Belden LK, Daszak P, et al. (2010) Impacts of biodiversity on the emergence and transmission of infectious diseases. Nature 468: 647–52. (24) Hertig E (2019) Distribution of Anopheles vectors and potential malaria transmission stability in Europe and the Mediterranean area under future climate change. Parasit. Vectors 12 (1): 18. (25) World Health Organization (WHO): Dengue guidelines for diagnosis, treatment, prevention and control: new edition 2009. https://apps.who.int/iris/handle/10665/44188. (26) Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren e. V.: Die Helmholtz-Klima-Initiative. https:/www.helmholtz.de/forschung/klimainitiative/. (27) Hondula DM, Balling RC, Vanos JK, et al. (2015) Rising Temperatures, Human Health, and the Role of Adaptation. Curr Clim Change 1: 144–54. 138 Ciancono P, Betrò S, Janiri L (2020) The Impact of Climate Change on mental health: A Systematic Descriptive Review. Frontiers in Psychiatry 11: 74, https://doi.org/10.3389/fpsyt.2020.00074 . 139 Albrecht G (2005) ‚Solastalgia‘ A New Concept in Health and Identity. Pan 3:41-55. 140 Auch wenn dies zuerst „nur“ einzelne Menschen betrifft und diese eher wenig im Fokus des iKSP (2017) stehen, so wird dies doch in vielfältiger Form Auswirkungen auf die „Wirtschaft“ in Hessen haben und deren Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Auch aus einem „Ökonomie“-Fokus macht es daher Sinn, diese Risiken geeignet zu erkennen und zu mindern. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 38 4.7 Ausblick auf Risiken An vielen Stellen im iKSP sieht man die Bemühungen Einzelner, in ihren Beiträgen eine ganzheitlichere Perspektive einzunehmen. Erst in der Zusammenschau entsteht dann der Eindruck, dass wesentliche absehbare Veränderungen, Bedrohungen und Risiken verursacht durch den Klimawandel letztendlich nicht als Grundlage der aufgenommenen Maßnahmen berücksichtigt wurden. Hessen benötigt dringend eine ganzheitliche, systemische, undogmatische und faktenorientierte Bewertung der anstehenden Risiken. Insbesondere werden robuste Klimaprognosen für Hessen (wie auch die Bundesrepublik Deutschland) benötigt, die bessere Planung in den besonders betroffenen Sektoren ermöglichen. Es wäre sinnvoll, die rein aus Computer-Modellen erzeugten Prognosen mit geologischen Daten und einfacheren thermophysikalischen Abschätzungen abzusichern. Diese Kompetenzen können in den relevanten Landesämtern (mit der dann dort benötigten Freiheit für die Forschung), oder an Hochschulen und anderen geeigneten Institutionen entwickelt werden. Aus den absehbaren Veränderungen und Risiken entsteht z.T. direkter Handlungsbedarf, z.T. besteht Bedarf an schnellen und ergebnisorientierten Untersuchungen. Die relevanten Institutionen benötigen dafür Ressourcen und die Freiheit auch ungewollte oder schwierige Ergebnisse produzieren zu können. Besondere Schwerpunkte liegen bei der Forst- und Landwirtschaft sowie bei der Stadtplanung. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 39 5 Gesetzte Ziele im iKSP (2017) 5.1 Bewertung Die formulierten Ziele im iKSP (2017) sind vage. Die Ziele werden nicht an ein THG-Budget angelehnt. Es findet keine Aufteilung der Ziele auf Sektoren, Regionen oder Akteure statt. Zusätzlich hängt der dort gesetzte Zeitplan hinter dem aktuellen Zeitplan der Bundesregierung hinterher. Bis 2020 sollen die Treibhausgasemissionen um 30 %, bis 2025 um 40 % und bis 2050 um mindestens 90 % (im Vgl. zum Basisjahr 1990) vermindert werden, siehe iKSP (2017), S. 6.). Die Ziele der Bundesregierung sind 141 142 40 % in 2020 und 55 % in 2030 . Das Endziel 2050 stimmt in etwa überein: Treibhausgasneutralität . Das 143 ist auch die EU-Marke . Die Ziele im iKSO (2017) orientieren sich nicht am Konzept des verbleibenden CO2-Budgets. Dies wird jedoch 144 vom Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung gefordert . Es kommt darauf an, die Netto-Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen schnell abzusenken und weltweit spätestens zwischen 2040 und 2050 auf null zu reduzieren. Unter Berücksichtigung globaler Klimagerechtigkeit müsste dieser Wandel in Europa sogar noch deutlich schneller ablaufen – siehe Abbildung 8 für die Zuordnung historischer und aktueller Emissionen. Das Land benötigt dringend messbare Ziele, die einzelnen Akteuren zugeordnet werden. Maßnahmen 145 werden wirksam, wenn sie durch messbare Ziele und klare Verantwortung umsetzbar werden – es also 146 SMARTe Ziele sind. Sollte das Land Hessen aber weiter auf messbare, zeitlich festgelegte, klare Ziele verzichten, wäre dies ein eindeutiges Signal, dass Klimaschutz und Klimaanpassung nicht zu den Politikzielen der Landesregierung gehören. Diese Signalwirkung würde auch durch Rhetorik nicht in ihrer Wirkung gemindert, da sie von vielen Akteuren so erkannt wird. Abbildung 8 illustriert die besondere Verantwortung Deutschlands und Hessens: Historisch betrachtet zählt Deutschland zu den größten CO2-Emittenten weltweit, die kumulierten (aufaddierten) Pro-Kopf-Emissionen liegen demnach bei über 1000 t CO2 je heute lebendem Einwohner. Gleichzeitig gehört Deutschland auch aktuell zu den größten Emittenten Europas – umso mehr da wir größere Anteile unserer Emissionen als versteckte Flüsse importieren, sie aber durch die Verwendung des Territorialprinzips bei der Zuordnung von Emissionen explizit vernachlässigen (s.o.). 141 Bundesgesetzblatt 2019, Teil I Nr. 48, Seite 2513. 142 BMU unter https://www.bmu.de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Klimaschutz/klimaschutz_in_zahlen_klimaziele_bf.pdf. 143 Europäische Kommission unter https://ec.europa.eu/clima/policies/strategies/2050_de. 144 https://www.umweltrat.de/SharedDocs/Downloads/DE/01_Umweltgutachten/2016_2020/2020_Umweltgutachten_Entschlossene _Umweltpolitik.html. 145 Dies ist die Grundlage guten Managements; zu den Methoden z.B. DIN EN ISO 9000 Serie oder mit Bezug auf Umweltziele DIN EN ISO 14000 Serie. 146 SMART fasst fünf wesentliche Aspekte guter Ziele zusammen (z.B. Linow S (2019) Energie – Klima – Ressourcen. Hanser, München): Spezifisch – Das Ziel oder die Ziele müssen klar verständlich und eindeutig formuliert sein. Der Interpretationsraum soll so weit wie möglich reduziert werden, so dass alle am Prozess Beteiligten auch die gleiche Zieldefinition verstanden haben und verwenden können. Messbar – Ziele und wichtige Aspekte der Ziele sollen messbar sein. Damit kann man klar erkennen, ob ein Ziel erreicht wurde. Es wird möglich, den Fortschritt eindeutig zu beschreiben und Abweichungen vom Plan zu erkennen. Akzeptiert – Alle am Prozess Beteiligten haben einen grundsätzlichen gemeinsamen Konsens zum Ziel selber. Sie müssen keinen gemeinsamen Konsens zu allen Details haben, vieles wird im Verlauf des Prozesses verhandelt. Dieser Punkt wird auch als 'assignable', also einem Verantwortlichen zuordenbar definiert. Realistisch – Das Ziel muss grundsätzlich erreichbar sein. Insbesondere ist dies oft eine Frage der bereitgestellten Ressourcen für die Bearbeitung des Projektes. Terminiert – Es muss ein klarer Zeitpunkt für das Projekt vorgegeben sein, bis zu dem es abgeschlossen sein soll. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 40 Abbildung 8 – Historische (1750-2014) kumulierte Pro-Kopf-Emissionen an CO2 verschiedener Nationen (blau: Europa, rot: Rest der Welt) aufgetragen gegen die Pro-Kopf-Emissionen in 2014. Die nationalen Gesamt-CO2- 147 Emissionen in 2014 sind durch die Blasenfläche illustriert. 5.2 Ausblick Es muss ein Prozess erstellt werden, bei dem klare messbare Ziele benannt werden und bei dem diese Ziele dann für alle Maßnahmen verfolgt und überprüft werden. Des Weiteren müssen die benötigten Kennzahlen zeitlich in wesentlich engeren Abständen als im 5-Jahreszyklus erhoben werden (in der Wirtschaft geschieht dies z.B. vierteljährlich). Falls gewünschte Ziele nicht erreicht werden, müssen Maßnahmen umgehend angepasst werden. 148 Wie im iKSP (2017) diskutiert, müssten dafür alle relevanten THGs einbezogen werden . Damit Hessen tatsächlich THG-Emissions-frei wird, oder seine Minderungsziele in einer relevanten Form 149 erreicht, müssten importierte und exportierte Flüsse und Emissionen mit einbezogen werden . Die zukünftigen Maßnahmen benötigen eine Berechnung des durch die Maßnahme erwarteten Effektes und im Folgenden ein Monitoring, also eine genaue und eng gestaffelte Überprüfung des Effektes. Maßnahmen sollten zukünftig nach der Größe ihres Nutzens und ihrer Effektivität ausgewählt werden. In einem eventuellen Beteiligungsprozess sind konkrete messbare Ziele (wie sie aus den eingegangenen Verpflichtungen durch das Pariser Klimaschutzabkommen und andere Verträge hervorgehen) als Randbedingungen vorzugeben. 147 Daten aus Boden T, Andres B, Marland G (2017) National CO2 Emissions from Fossil-Fuel Burning, Cement Manufacture, and Gas Flaring: 1751-2014. doi 10.3334/CDIAC/00001_V2017. 148 Neben CO2 sind dies Methan CH4, Lachgas N2O, Schwefelhexafluorid SF6, NF3, fluorierte Kohlenstoffe CxFy, Kältemittel wie R134a. 149 Es ist im Sinne einer systemischen Betrachtung oder im Hinblick auf Klimaziele nicht sinnvoll, z.B. Braunkohlestrom aus NRW zu beziehen, Lebensmittel aus dem ehemaligen Amazonas-Urwald oder Halbleiterprodukte bei deren Herstellung große Mengen an THG an anderem Ort freigesetzt wurden, die damit verbundenen Emissionen dann zu ignorieren, um so behaupten zu können, Hessen sei klimaneutral. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 41 6 Vorgehen Die Dringlichkeit der Aufgaben erfordert SMARTe Ziele. Dies ist methodisch grundsätzlich im iKSP 2025 angedacht, aber ungenügend verfolgt. Es werden also (s.o.) klare Ziele und klare Verantwortlichkeiten benötigt. Ein zeitlicher Takt der Fortschreibung des iKSP alle 5 Jahre genügt nicht, um die beeindruckende aktuelle Dynamik des Klimawandels in Hessen oder global in den nächsten Jahren erfolgreich zu fassen und in Politik umzusetzen. Wenn die Landesregierung hier proaktiv gestalten will, benötigt sie einen deutlich agileren 150 Prozess, der laufende Entwicklungen aufnehmen und umsetzen kann. Teil des aktuellen Prozesses sollte daher sein, die Zeitintervalle zwischen Fortschreibungen zu hinterfragen und geeignet anzupassen bzw. zu verkürzen; besser wäre vermutlich ein kontinuierlicher Prozess. Die wissenschaftlichen Grundlagen im iKSP (2017) sind z.T. veraltet, nicht detailliert genug oder stellen nicht 151 den Stand des Konsenses in den einzelnen Wissenschaften dar . Damit ändert sich die wissenschaftliche und faktische Grundlage für die eher sehr langfristig angelegten Maßnahmen offensichtlich oft schon während der Vorbereitungsphase eines solchen iKSP. Gleichzeitig zielen viele der jetzt bereits angegebenen Maßnahmen darauf, robuste Daten für Entscheidungen bereitzustellen. Im aktuellen Prozess zur Fortschreibung des iKSP sollte geklärt werden, ob diese Daten tatsächlich bereits regelmäßig (z.B. quartalsweise, bzw. maximal jährlich) erhoben werden; wie diese Daten allen betroffenen Akteuren möglichst gut zugänglich, aktuell und in geeigneter Form bereitgestellt werden können – diese Daten sollten darüber hinaus auf einer zentralen Informationsseite zu diesem Prozess zugänglich sein; wie es gelingt, gute, aktuelle, wissenschaftlich akzeptierte Daten frühzeitig dann einzubinden, wenn sie vorliegen und nicht erst mit großer Verzögerung am Ende eines lang dauernden Fortschreibungsprozesses; wie Fragestellungen im Prozess schnell (Wochen bis Monate) aus der (hessischen) Wissenschaft beantwortet werden können; ob das HLNUG die unabhängige wissenschaftliche Beratung übernehmen kann, oder ob diese Aufgabe besser an ein unabhängiges externes Gremium gegeben wird, da das HLNUG weisungsgebunden ist; wie eine zeitnahe (als quartalsweise, maximal jährliche) Erfolgskontrolle aller Maßnahmen implementiert wird, die der aktuellen und absehbaren Dynamik des Klimawandels angemessen 152 ist ; wie notwendige Beschlüsse und Entscheidungen – z.B. seitens der Landesregierung oder des Parlamentes – zeitnah herbeigeführt werden können; wie es auch regulatorisch gelingt, notwendige Entscheidungsprozesse möglichst weit unten in Hierarchieketten geeignet zu verankern. 150 Damit sind extern verursachte Ereignisse, wie Dürre oder Flut, Ereignisse außerhalb Hessens aufgrund des Klimawandels wie Konflikte, Klimakatastrophen oder Flucht, aber auch Entwicklungen innerhalb Hessens, wie neue Erkenntnisse, neue Prognosen, neue Bewertungen aus der Verwaltung oder aus den wesentlichen Akteuren heraus umfasst. 151 Insgesamt ist Wissenschaft ein Unterfangen, dass auf Konsistenz drängt. Daher sind starke Widersprüche zwischen Theorien und Messdaten kaum über längere Zeit durchzuhalten. Moderne Wissenschaft ist disziplinär vernetzt, so dass Konsistenz über Disziplinen- Grenzen wirkt. Grundsätzlich ist der wissenschaftliche Konsens zu Klimawandel und seinen Auswirkungen in das System Erde in den IPCC-Berichten (www.ipcc.ch) abgebildet, wobei diese bisher als zurückhaltend eingeschätzt werden, was die Beschreibung von Heftigkeit und Geschwindigkeit der sich entfaltenden Veränderungen im System Erde durch den Klimawandel sind. Der 5. IPCC Sachstandsbericht stammt aus dem Jahr 2013, wichtige neue Erkenntnisse sind seither veröffentlicht und werden 2021 im 6. Sachstandbericht des IPCC implementiert werden. 152 5 Jahre erscheinen angesichts der noch zur Verfügung stehenden Reaktionszeit in vielen Bereichen um eine Größenordnung – Faktor 10 – zu lang. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 42 7 Maßnahmen zur THG-Reduktion 7.1 Bewertung Der Bericht enthält eine ganze Reihe von Maßnahmen, die jeweils einen Beitrag zu den Zielen des Landes Hessen leisten sollen. Die Maßnahmen sind im Einzelnen sinnvoll. Die zahlreichen, aber eher geringfügig wirksamen Klimaschutzmaßnahmen zielen zwar auf eine Reduktion der TGH-Emission in Hessen, zumeist jedoch ohne die verursachende Aktivität selbst direkt in Frage zu 153 stellen . Nur für wenige Maßnahmen und selbst dann nur in Teilbereichen wird das Ziel der Klimaneutralität angestrebt; dies ist im Widerspruch zu den Zielen. 154 Die Maßnahmen enthalten viele Beratungsaktivitäten zur effizienteren Energienutzung . Was im Einzelnen unter „Unterstützung“ zu verstehen ist, wird nicht erklärt. Da Effizienz alleine nicht genügt, die Klimaziele des Landes zu erreichen, sollte der Fokus auf solche Maßnahmen ausgeweitet und verschoben werden, durch 155 die eine effektive Reduktion erreicht werden kann . Mit Bezug auf „Effektivität“ sind dies Maßnahmen, die nicht zu Emissionen an anderem Ort führen (können). Die Ziele der Maßnahmen sind meist rein qualitativ beschrieben, es fehlen oft quantitativ und zeitlich definierte (SMARTe) Ziele. Insbesondere fehlt jeweils der genaue und explizite Beitrag zur Minderung der THG-Emissionen in Hessen. Gute Praxis ist es, solche Maßnahmen zu priorisieren, die einen hohen Beitrag zu einer Zielerreichung liefern. Voraussetzung dafür sind quantifizierte Ziele und eine Quantifizierung des erwarteten Effektes der einzelnen Maßnahmen. Es ist nicht ansatzweise erkennbar, wie diese wenigen Maßnahmen zusammen die gesetzten Ziele erreichen sollen: Es ist letztendlich nicht erkennbar, ob die gesetzten Ziele überhaupt eine Reduktion der THG-Emission ermöglichen. Eine weitergehende Analyse der angegebenen Maßnahmen entfällt daher. Als allgemeinen Ansatz für die dringend notwendigen Handlungen zum Klimaschutz schlagen wir vor: 1) Grundsätzlich gilt, dass die Ziele für die THG-Reduktion in Hessen zeitlich verschärft werden sollten: Die Ziele sollten zumindest in Übereinstimmung mit den Zusagen der Bundesregierung des Pariser 156 Klimaabkommens sein, d.h. diese Zusagen für Hessen zu erfüllen . Darüber hinaus sollten die Ziele jedoch – zum Schutz der Menschen in Hessen und weltweit – das 1,5 °C Ziel als Vorgabe umsetzen. Dies wird erreicht, wenn das Prinzip eines entsprechenden THG-Budgets zugrunde gelegt wird. 2) Für alle Sektoren und Bereiche müssen Maßnahmen so gestaltet werden, dass mit ihnen bis 2040 Klimaneutralität potentiell erreicht werden kann. Inwieweit dies durch die direkte Reduktion von THG-Emissionen oder durch entsprechende Kompensationen innerhalb der Landesgrenzen 157 geschieht, ist zu klären . 153 Im Sinne einer Risikobetrachtung und Risikominderung ist die bevorzugte Vorgehensweise (DIN EN ISO 12100): a) zuerst durch geeignete Maßnahmen die schädlichen oder risikobehafteten Aspekte ganz zu entfernen, so dass das Risiko – hier die Emissionen – nicht auftreten, b) falls a) unmöglich ist durch technische Maßnahmen das Risiko mindern und c) falls dies auch nicht möglich ist, durch organisatorische Maßnahmen das Risiko zu mindern. In diesem Sinne sind zuerst solche Maßnahmen anzugehen, die effektiv weitere Emissionen nicht benötigen; als zweites Maßnahmen, die Emissionen auffangen und unschädlich machen. 154 Zur (oft überschätzten) Rolle der Effizienz, siehe oben. Die benötigten THG-Reduktionen sind über Effizienz nicht im Ansatz zu erreichen. 155 Hier erfolgt die Verschiebung des Fokus der Maßnahmen weg von Effizienz hin zur tatsächlichen Effektivität, also tatsächlicher Zielerreichung. 156 Auch wenn diese Zusagen selber noch ungenügend sind, um das Paris 1,5 °C Ziel zu erreichen, bzw. den Anteil Deutschlands zur Erreichung dieses Zieles darzustellen. 157 Aufgrund des streng angewendeten Territorialprinzips im iKSP und in der Kommunikation des Landes sind Exporte von THG- Emissionen, wie auch Importe von THG-Emissionen nicht vorgesehen. Damit tragen Kompensationen außerhalb Hessens nicht zu einer Minderung der THG-Emissionen in Hessen bei. Grundsätzlich ist eine vollständige Bilanzierung der THG-Emissionen zu bevorzugen. Diese Bilanzierung berücksichtigt externe Flüsse, die über den Lebensweg von Produkten oder Dienstleistungen importiert werden (z.B. DIN EN ISO 14040). Diese Bilanzierung würde S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 43 3) Hier – wie auch bei den Klimaanpassungsmaßnahmen – sehen wir die Notwendigkeit, Politiker:innen kompetent und aktuell mit relevanten Fakten zu versorgen. Dies kann über eine mit den benötigten Kompetenzen und der benötigten Unabhängigkeit ausgestatteten Behörde o.ä. erfolgen. Einen guten Beitrag könnte auch ein wissenschaftlicher Klimabeirat liefern, der aktuelle relevante Daten und Analysen für Hessen einbringt und Politikoptionen auch weit außerhalb des üblichen entwickelt. Ein solcher Klimabeirat sollte interdisziplinär aufgestellt sein, insbesondere werden Kompetenzen aus Klimawissenschaft und Meteorologie, Biologie, Forst- und Landwirtschaft, Sozial- und Gesellschafts- wissenschaften, Technikwissenschaften, Wissenschaften mit Fokus auf nachhaltiges Wirtschaften, sozialer Arbeit und Medizin benötigt. 4) Die zur Erreichung des Klimaschutzziels notwendige Energiewende erfordert eine Verschiebung von Prioritäten. Für Wirtschaftsunternehmen ist Planbarkeit und die zuverlässige Versorgung mit Energie wesentlich. Damit Wirtschaftsunternehmen bereitwillig auf regenerative Formen der Energie- versorgung umstellen können, benötigt es zumindest ein „level playing field“ regenerativer Energieformen. Es werden daher regulatorische Maßnahmen vom Land Hessen benötigt, die dies 158 ermöglichen oder (besser) fossile Energieformen deutlich benachteiligen . 5) Eine Energiewende wird für einzelne, insbesondere für ökonomisch schwach gestellte Menschen starke Auswirkungen haben. Daher ist eine verantwortungsvolle Sozialpolitik integraler Teil einer Klimaschutzpolitik. Die Landesregierung Hessens sollte soziale Aspekte in die Abwägung von Rechtsgütern einbeziehen – die Grundbedürfnisse einer Daseinsvorsorge für alle Bürger:innen mittelfristig und langfristig zu sichern hat in einer Demokratie eine mindestens gleichwertige 159 Bedeutung gegenüber Unternehmensgewinnen . Dies klar zu formulieren wäre ein erster wichtiger Schritt. 7.2 Weitere Maßnahmen Wir fügen eine Reihe von weiteren und weitergehenden Vorschlägen für Maßnahmen an, die jeweils zusätzliche Beiträge leisten können. Hierbei haben wir versucht, uns an der Struktur des iKSP zu orientieren, dies ist jedoch ausgesprochen schwierig, da viele zentrale Aspekte nicht über die dort gemachte Struktur abzubilden sind. Dabei gilt, dass jeder einzelne Sektor möglichst bald Klimaneutralität erreichen soll. Dazu müssen heute, die wesentlichen Maßnahmen ergriffen werden, um Klimaneutralität bis 2030 zu erreichen. Selbst wenn etwas weniger ambitioniertes Ziele angestrebt werden, so muss in jedem Falle zeitnah und entschieden gehandelt werden, damit bis 2030 wesentliche Effekte erreicht werden können. dann auch den Import von Kompensationen erlauben. Bei solchen Kompensationen außerhalb Hessens muss jedoch sichergestellt sein, dass Hessen oder hessische Akteure selber die Kompensationsmaßnahmen langfristig erhalten und durchsetzen können, d.h. ggf. ihre Macht in ausreichender Stärke projektieren können. 158 Dabei ist es nicht wesentlich, wie diese Maßnahmen gestaltet werden, wenn sie ihr Ziel erreichen. Im Hintergrund geht es dabei darum, die Externalisierung der Umweltschäden aus der Beschaffung von momentan billigster Energie – hier Klimakatastrophe als direkte Folge – regulatorisch zu verhindern, in dem die Kosten für Energie in das wirtschaftliche Handeln internalisiert werden. Zur Subventionierung fossiler Energieträger, siehe Coady, D.; I., Parry; Sears ,L.; Shang, B.: How Large Are Global Energy Subsidies? IMF Working Paper 15/105. International Monetary Fund, 2015, https://www.imf.org/external/pubs/ft/wp/2015/wp15105.pdf. Ausgehend von dieser Zahl, also etwa 5 % des globalen BSP als Subvention, wird deutlich, wie einfach z.B. Hessen große finanzielle Mittel auf regenerative Energieträger umwidmen könnte. 159 Wie oben gezeigt, wägt der iKSP (2017) zwischen „Ökonomie“ und „Ökologie“ ab, wobei deutlich ersteres als Hauptziel angesehen wird. Als wichtigste Kennzahl eines Erfolges in der Wirtschaft gilt typisch „Earnings before Interest and Taxes“ (EBIT) oder vergleichbar – dies kann man daher als wesentlichen heutigen Bewertungsmaßstab der Landesregierung interpretieren. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 44 Unabhängig davon weisen wir darauf hin, dass die Sammlung der bekannten und notwendigen Vorschläge, 160 Ansätze und Möglichkeiten aus nahezu allen Bereichen der Gesellschaft bereits sehr groß ist . Daher beziehen wir alle dort enthaltenen Vorschläge, Ansätze und Möglichkeiten über die Referenz mit in diesen Bericht ein. Es ist nicht der Mangel an Lösungsansätzen, sondern der Mangel an konkreter Handlung auf 161 Regierungsebene, der hier als Kernhinderungsgrund identifiziert werden kann . Energieerzeugung und -umwandlung 162 Die Bereitstellung von ausreichender hochwertiger Energie ist eine essentielle und die wichtigste 163 Grundlage für gute Lebensbedingungen der Einwohner:innen sowie für die die existierende und für zukünftige Industrie und Gewerbe in Hessen. Wir sehen die Landesregierung hier in der Pflicht, alles Notwendige zu tun, um die Energiewende in allen Sektoren in Hessen schnell zu ermöglichen. Das Land bezieht einen Großteil der benötigten Elektrizität aus anderen Bundesländern und importiert damit 164 THG-Emissionen , die aber aufgrund des Territorialprinzips bei der Allokation der THG-Emissionen im iKSP (2017) vernachlässigt werden. Im Sinne einer Zielführung ist dies ungünstig. Importierte Emissionen müssen daher zusätzlich ausgewiesen werden. Der Anteil der erneuerbaren Energien am Stromverbrauch lag 2015 in Hessen bei 16,4 Prozent. Zu der in Hessen erzeugten Elektrizität trugen erneuerbare Energien 2015 mit ca. 39 Prozent den größten Anteil bei. Der Anteil Erneuerbarer Energien an der Strom- und Wärmeerzeugung soll bis 2050 möglichst bei 100 % liegen (iKSP (2017), S. 21 ff.). Für die hessischen Kraft- und Heizwerke strebt Hessen die Umrüstung auf Biomasse und biogene Reststoffe an. Die verfügbare Biomasse, die in Hessen nachhaltig geerntet werden kann, reicht nicht im Ansatz aus, um 165 den Energiebedarf Hessens decken zu können . Daher ist dies eine nur geringfügig wirksame Maßnahme. Kraft-Wärme-Kopplung sehen wir als Teil einer Effizienz-Strategie des Landes Hessen an, bei der die vorhandenen zumeist fossilen Energieträger in Hessen weiter genutzt werden sollen. Eine Umstellung auf Biomasse erscheint aufgrund der realen Zuwächse in hessischen Forsten und mit der Randbedingung der vorrangigen Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln zumindest schwierig. Ein Import von 166 ausreichend Biomasse ist aus einer systemischen und globalen Perspektive fragwürdig . 160 Zum einen die bereits zitierten Roadmaps: Deutsche Energie Agentur: DENA-Leitstudie Integrierte Energiewende. https://www.dena.de/integrierte-energiewende/ Gerbert P, Herhold P, Burchardt J et al (2018) Klimapfade für Deutschland. Boston Consulting. https://www.bcg.com/de-de/publications/2018/climate-paths-for-germany Fraunhofer ISE: Was kostet die Energiewende? Wege zur Transformation des deutschen Energiesystems bis 2050. https://www.ise.fraunhofer.de/de/veroeffentlichungen/studien/was-kostet-die-energiewende.html Weiter z.B. Hentschel KM [Hrsg] (2020) Handbuch Klimaschutz. Wie Deutschland das 1,5-Grad-Ziel einhalten kann. Oekom, München. 161 Und dessen Ursache dieser iKSP (2017) ja auch sehr deutlich bereits im Vorwort darlegt. 162 Hochwertige Energie kann – mit Bezug auf das SDG 7 erst einmal als Elektrizität gedacht sein, meint in einer zweiten Ebene jedoch alle Formen konzentrierter Energie, wie hochwertige nicht-fossile Brennstoffe. 163 Dabei kann man z.B. die Metrik verwenden aus Rao ND & Jihoon Min (2018) Decent Living Standards: Material Prerequisites for Human Wellbeing. Social Indicators Research 138: 225–244, https://doi.org/10.1007/s11205-017-1650-0. 164 Das bedeutet, dass der nach Hessen importierte Strom weitgehend aus fossilen Energien erzeugt wird. Das Land Hessen sieht die Hauptverantwortung beim Bund bzgl. Entwicklung einer Kohlestrategie. Inzwischen wurde der Kohleausstieg bis 2038 beschlossen und gegenwärtig gehen weitere Kohlekraftwerke an das Netz. 165 Gerne stellen wir dazu überschlägige Rechnungen zur Verfügung. Einer von uns (Sven Linow) forscht zu diesen Themen. Unabhängig davon ist der Anbau von Energie-Pflanzen darüber hinaus ökologisch schädlich, führt zum Verbrauch von Fläche, Wasser, Düngung. Notwendige Monokulturen zerstören Biodiversität. Dies wird zunehmend kritisch bewertet. Eine Energieversorgung ist ohne Ausbau der Biomasse-Verwertung möglich, z.B. https://www.umweltbundesamt.de/themen/klima-energie/erneuerbare- energien/bioenergie#bioenergie-ein-weites-und-komplexes-feld 166 Da diese Biomasse zumeist aus nicht regenerativen Quellen stammt und selber weitere THG-Emissionen oder irreversible Störungen im System Erde verursacht. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 45 Das Land muss das Notwendige tun, um den Ausbau von Windenergie- und Solar-Anlagen in Hessen so voranzutreiben, dass die Energieversorgung Hessens zu einem guten Teil von diesen Anlagen gedeckt werden kann. Diese Maßnahmen sind zentral, da im Rahmen der Energiewende eine stärkere Elektrifizierung in vielen Bereichen der Gesellschaft (Verkehr, Gebäudeklimatisierung, viele Industrieprozesse, private Haushalte) angestrebt und notwendig ist. Damit gehört zu den wesentlichen benötigten Maßnahmen die planerische und regulatorische Ermöglichung eines schnellen und massiven Ausbaus dieser regenerativen Energiequellen in Hessen. Dies geht über die Verringerung der Hürden für den Ausbau von Windkraft deutlich hinaus – das Ziel ist es, viel schnell zu ermöglichen. Insbesondere genügen die heute ausgewiesenen 2 % der Landesfläche hier nicht im Ansatz für die ausreichende Versorgung des Landes, hier sollte schnellst möglich eine ermöglichende Gesetzgebung und Planung erfolgen. Für die erfolgreiche Nutzung regenerativer Energieträger werden zusätzliche Maßnahmen zur Netzstabilisierung und zur Speicherung benötigt. Damit gehört zu den wesentlichen benötigten Maßnahmen die planerische und regulatorische Ermöglichung eines schnellen und massiven Ausbaus von Speichern: Während Pumpspeicher-Kraftwerke als etablierte Technik quasi sofort gebaut werden können und Hessen einige echte Gunstlagen besitzt, besteht bei Power-to-X in der benötigen Größenordnung noch erheblicher Forschungsbedarf. Im Bereich Power-to-X werden dringend (im Sinne von in diesem Jahr) Großprojekte benötigt, die auf einer technisch relevanten Prototypen-Ebene die unterschiedlichen Technologien ausprobieren, die Entwicklung noch fehlender Bausteine so schnell erzwingen und über einen Wettbewerb der Technologien die besten 167 Ansätze vorantreiben . Im Sinne einer Förderung der regionalen Wirtschaft wäre es sehr sinnvoll, solche Projekte heute voranzutreiben. Allgemeine Maßnahmen zur Ermöglichung umfassen damit Gesetze und Verordnungen anpassen, so dass Möglichkeitsräume für solche Projekte existieren können: Hier geht es oft um Vereinfachung von übergenauen Regularien, die technische Lösungen vorschreiben oder die implizit fossile Energieträger bevorzugen. Die Bevorzugung von regenerativen Energien auf allen Ebenen kann hier einen deutlichen Veränderungsdruck erzeugen. Für alle Akteure müssen regenerative Energiequellen die erste Wahl bei Entscheidungsprozessen sein. Gründung und Förderung von Organisationen, die spezifische Projekte vorantreiben. Uns ist bewusst, dass hierdurch ggf. in die heutige Struktur der Energieversorger eingegriffen wird. Z.T. sind heutige Energieversorger durch langfristige Investitionen in fossile Energieträger oder bestehende Infrastruktur aus eigener Kraft nicht auf einen anderen Weg zu bringen – diese benötigen ggf. Unterstützung. Einsetzen auf Bundes- und EU-Ebene für ermöglichende Gesetze und Verordnungen. Hessen hat eine wichtige Stimme und kann diese einsetzen, um die Energiewende schnell zu ermöglichen. Konkrete Hebel umfassen: Nutzung der Grunderwerbsteuer für die Motivation zu klimafreundlichen Maßnahmen. Nutzung der Gewerbesteuer als Hebel. Vorbildfunktion des Landes auf allen Ebenen. Regionale Groß-Versuche für Power-to-X, z.B. als Brennstoff für die Landwirtschaft, für ÖPNV – nachdem die Versorgung der Power-to-X Infrastruktur durch regenerative Energieträger sichergestellt ist. Abwärme-Nutzung von Rechenzentren erfordern/fördern. Weitere energieverbrauchsrelevante Maßnahmen finden sich weiter unten. 167 Als Überblick Palmer G, Floyd J (2020) Energy Storage and Civilisation. A Systems Approach. Springer, Cham. Konzepte, Größenordnungen, Lösungen und Herausforderungen werden gerade für die Region Darmstadt in studentischen Projekten analysiert (Sven Linow). S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 46 Wärmeversorgung Zusätzlich zur Stromerzeugung spielt der Transformationsprozess der Wärmeversorgung eine zentrale Rolle bei der Dekarbonisierung des Energiesektors. Um eine Energieversorgung ohne fossile Energieträger zu 168 erhalten, ist die vorgeschlagene Umstellung von Kohlekraftwerken auf Erdgas kontraproduktiv . Stattdessen müssen dringend regenerative Energien eingesetzt werden, ergänzt in begrenztem Ausmaß durch die Verbrennung von Rest- und Abfallstoffen (siehe vorheriger Abschnitt). Wärmeversorgungssysteme müssen daher grundlegend transformiert werden. Wichtige Bausteine der zukünftigen Wärmebereitstellung sind über die im iKSP genannte Nutzung lokal verfügbarer, nachhaltig bereitgestellter Biomasse hinaus (die nur in vergleichsweise geringem Umfang zur Verfügung steht), der Einsatz von Wärmepumpen, Solarthermie- und ggf. Geothermie-Anlagen, Nutzung von Abwärme z.B. aus 169 Industrieprozessen , in begrenztem Ausmaß Reststoff-, Müll- und Klärschlammverbrennung und Stromüberschüsse. Zur Wärmeverteilung kann in dicht besiedelten Gebieten die Verdichtung und der Ausbau 170 von Nah- und Fernwärmenetzen eine zentrale Rolle ermöglichen . 171 Daraus leiten sich wichtige landespolitische Maßnahmen ab, wie zum Beispiel : Eine Verpflichtung zu einem systematischen Energiemanagement auf kommunaler Ebene, das ein kontinuierliches Erheben, Erfassen und Optimieren aller relevanten Energieverbraucher beinhaltet, inklusive Zielvereinbarungen, Koordination von Aufgaben und Verantwortlichkeiten, sowie Controlling. Eine verpflichtende kommunale Wärmeplanung in großen Kreisstädten und kreisfreien Städten, die unter anderem eine systematische Erhebung des Wärmebedarfs, der Energieeinsparpotentiale sowie von Potentialen zur Nutzung erneuerbarer Energien und Abwärme beinhaltet. Bausteine einer solchen Wärmeplanung sind die Ausweisung von Gebieten, die zukünftig zentral bzw. dezentral mit Wärme versorgt werden, eine mittelfristige Planung des Rückbaus von Erdgasnetzen (oder Umbau zu Wasserstoff-Netzen), Szenarien und Maßnahmenentwicklung, sowie die Schaffung von 172 Beratungsangeboten, Monitoring und Controlling des Prozesses . Die Verpflichtung, in Neubauten und bei Gebäudesanierung Solaranlagen zu installieren. Diese Möglichkeit ist den hessischen Kommunen z.Zt. durch das hessische Baurecht untersagt; d.h. hier wird ermöglichende Gesetzgebung dringend benötigt. Ein sofortiges Verbot der Nutzung von fossilen Flüssigbrennstoffen und Stromdirektheizungen höherer Leistungsklassen bei der Sanierung von Heizungsanlagen und im Neubau. Die Einführung von Beschränkungen bei der Klimatisierung von Gebäuden durch mechanische Raumlüftung bei der Neuinstallation von Klimaanlagen. 168 Hier besteht z.T. ein „technology lock-in“, da fossil beheizte Fernwärmenetze mit sehr hoher Vorlauftemperatur zunehmend für den Betrieb von Adsorptionskältemaschinen im Sommer eingesetzt werden (Mainova). Eigentlich werden zukünftig niedrigere Vorlauftemperaturen angestrebt, um die Übertragungsverluste im Wärmenetz zu reduzieren (Effizienz). Hier besteht konkreter Handlungsbedarf. 169 Dieses Potential lässt sich mit Großwärmepumpen und ggf. niedriger Vorlauftemperatur im Wärmenetz sehr gut nutzen. 170 Hierzu Chittum A, & Østergaard P A (2014) How Danish communal heat planning empowers municipalities and benefits individual consumers. Energy Policy, 74: 465–474. https://doi.org/10.1016/j.enpol.2014.08.001 sowie Persson U, Wiechers E, Möller B, Werner S (2019) Heat Roadmap Europe: Heat distribution costs. Energy 176: 604–22. https://doi.org/10.1016/j.energy.2019.03.189 171 Hier gibt es bereits umgesetzte Ansätze in anderen Bundesländern, insbesondere Gesetz zur Förderung des Klimaschutzes in Baden-Württemberg vom 17.07.2013, 15. Wahlperiode, Drucksache 15 / 3842, https://um.baden-wuerttemberg.de/de/klima/klimaschutz-in-baden-wuerttemberg/klimaschutzgesetz/ Hamburgisches Gesetz zum Schutz des Klimas (Hamburgisches Klimaschutzgesetz – HmbKliSchG), https://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/13278828/2019-12-03-sk-bue-hamburger-klimaplan2019/ 172 Agentur für Erneuerbare Energien e.V. (2016) Die Kommunale Wärmeplanung. Ein wichtiger Treiber der Wärmewende. Renews Spezial 79, Berlin. https://www.unendlich-viel-energie.de/media/file/531.79_Renews_Spezial_Waermeplanung_Nov2016.pdf S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 47 Verkehr Die Landesregierung verweist auf die Verantwortung des Bundes für die Rahmensetzung in der Verkehrspolitik, sieht aber Handlungsspielräume über die Bereitstellung von Infrastruktur und die Finanzierung von öffentlichen Verkehrsangeboten. Hierbei sind Land und Bund in ihrem Handeln stark durch die StVO beschränkt, welche durch ihre Prämisse, die „Leichtigkeit“ des (implizit: vorhandenen) Verkehrs möglichst wenig einzuschränken, den Status Quo unterstützt und Maßnahmen der Mobilitätswende erschwert. Die Landesregierung sollte hier ihre Möglichkeiten der Einflussnahme nutzen, um diese unzeitgemäße Fixierung auf den fließenden motorisierten Verkehr zu entfernen. Der iKSP listet eine Reihe sinnvoller klimafreundlicher Maßnahmen auf, die aber nicht mit quantitativen und zeitlichen Zielsetzungen verknüpft werden und die grundsätzlich nicht geeignet sind, TGH-Neutralität zu erreichen. Auf der anderen Seite ist Verkehr der Sektor in Deutschland und in Hessen, der bisher nicht zur Reduktion von THG-Emissionen oder einer Energiewende beiträgt. Eine Umstellung der Fahrzeuge auf Elektrizität kann nur dann einen Beitrag liefern, wenn diese Elektrizität regenerativ erzeugt wird. Hierzu wird die notwendige regenerative Infrastruktur (Wind und PV) schnell benötigt. Im Sinne einer lokalen Energiewende und zur Vermeidung einer Externalisierung sollte die Energie auch in Hessen erzeugt werden. Die Aufgabe des Landes ist es damit, diesen massiven Ausbau möglichst schnell zu ermöglichen (s.o.), damit der Übergang in eine Elektrifizierung gelingen kann, bzw. zu synthetischen Brennstoffen aus Power-to-X, wo eine Elektrifizierung nicht sinnvoll ist. Eine Planung, wie CO2-Neutralität im Verkehrsbereich erreicht werden kann, existiert bisher nicht. Der 173 diskutierte Einsatz von LNG-Kraftstoff führt selbst bei Vernachlässigung der Vorkettenemissionen (Tank to 174 Wheel) nur zu einer Verringerung der CO2-Emission von 20 – 25 % und verändert damit die Situation kaum . Die systematische Förderung von kleinen und leichten Fahrzeugen, sowie deutliche Geschwindigkeits- begrenzung auf allen Straßen und die Reduktion des PKW-Verkehrs erreicht eine vergleichbare oder höhere 175 Reduktion im selben Zeitraum . Ein essentieller Beitrag zur Treibhausgas-Neutralität muss aus der Umrüstung des Güterverkehrs erzielt werden. Hierbei können Wasserstoff, Elektrifizierung und unterstützend synthetische Kraftstoffe (Power-to- X) geeignet sein. Das Land Hessen sollte die notwendigen Technologien in konkreten großtechnischen 176 Versuchen im Feld umsetzen, um damit die geeigneten Technologien schnell großflächig einsetzen zu können; eine weitere Verbesserung des heutigen Antriebs-Konzeptes behindert eher disruptive Veränderungen, da es die Ressourcen falsch zuordnet. Gleichzeitig sollte ein Teil des straßengebundenen Güterverkehrs auf die Schiene verlagert werden. Je nach Transportgut und Entfernung sind dadurch bereits 177 heute Energieeinsparungen pro Tonnenkilometer um bis zu 75 Prozent möglich . Das Land kann z. B. den Erhalt und Ausbau von Gleisanschlüssen, eine sinnvolle Weiterentwicklung des Konzepts des Kombinierten Verkehrs oder den Ausbau lokaler Schienenstrecken fördern und fordern. Im Bereich des ÖPNV und der landeseigenen Fahrzeuge hat das Land direkte Möglichkeiten für schnelle Maßnahmen. 173 Liquefied Natural Gas, also Erdgas. 174 Umweltbundesamt (2016) CO2-Emissionsfaktoren für fossile Brennstoffe. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1968/publikationen/co2- emissionsfaktoren_fur_fossile_brennstoffe_korrektur.pdf Nicht berücksichtigt ist dabei die Treibhauswirkung von Methan-Leckagen, die diesen positiven Effekt zunichtemachen können, siehe z.B. Linow S (2019) Energie – Klima – Ressourcen. Hanser, München. 175176 Großtechnisch bedeutet zumindest für eine Region, da erst dann Skaleneffekte und Lebensfähigkeit von Ansätzen bewertet werden können: Eine einsame Wasserstoff- oder Ammoniak-Tankstelle für ganz Hessen genügt nicht, um Systeme auszuprobieren oder gar eine kritische Masse für eigenständig ablaufende Disruptionen anzustoßen, z.B. Christensen C (2011) The Innovator's Dilemma. Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren. Vahlen. 177 https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Artikel/G/MKS/verkehrsverlagerungspotential-schienengueterverkehr.html S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 48 Im Bereich des Luftverkehrs kann das Land den Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL) bei seinem Vorhaben der Umstellung des gesamten Luftverkehrs bis 2050 auf 100 % synthetische regenerativ 178 erzeugte Brennstoffe durch ermöglichende Planung unterstützen. Durch diese Umstellung kann etwa 1/3 179 der Klimawirkung der Luftfahrt ggf. gemindert werden, da 2/3 durch induzierte Zirruswolken entsteht . Der BDL hatte vorgeschlagen, Flüge von unter 400 km auf Bahnverkehr umzustellen. Hessen sollte sich dafür einsetzen, dass diese Maßnahme umgesetzt wird und die Mindeststrecke für Flüge geeignet weiter ausgeweitet wird. Stattdessen sollte das Land beim Ausbau von Hochgeschwindigkeitsstrecken der Bahn ermöglichend und unterstützend wirken. Grundsätzlich ist der Umfang des Verkehrs zu reduzieren. Verkehrsreduzierende Maßnahmen umfassen z.B. eine breit angelegte Telearbeits-Strategie, Dezentralisierung von Verwaltungs- und Versorgungseinrichtungen oder -strukturen, "Städte der kurzen Wege", Wiederherstellung der Versorgung des ländlichen Raumes mit dezentralen Einkaufs-, Betreuungs- und Bildungseinrichtungen, etc. Dementsprechend sind der Neubau von Straßen und Autobahnen, sowie die Erweiterung von Flughäfen kontraproduktiv und nicht mit den gesetzten Klimazielen vereinbar. Es ist angezeigt, Straßen dort zu entfernen, wo sie keinen langfristigen Nutzen bringen, nur unnötigen weiteren Verkehr erzeugen, wesentliche Ökosystem-Services behindern oder unmöglich machen. Auch der Rückbau oder die Umwandlung von Straßen, wo sie durch Änderung der Raumstrukturen oder Rückgang der Verkehrsmengen keine wichtige Netzfunktion mehr erfüllen, sollte als Handlungsoption gesehen werden. Aktuelle Straßenbauprojekte sollten mit einem Moratorium versehen und auf ihre Klimaverträglichkeit und Notwendigkeit unter derzeitigen Prämissen überprüft werden; vorhandene Straßen sollten in ihrem Nutzen neu bewertet und ggf. entfernt werden. Das Land kann die Mobilitätswende direkt vorantreiben: Durch Investitionen auf den Landesstraßen in ein flächendeckendes Radwegevorrangnetz (Radschnellverbindungen, Raddirektverbindungen) und eine angemessene Priorisierung von Rad- und Fußverkehr sowie des öffentlichen Verkehrs an Knotenpunkten und Querungsstellen. Durch Einwirken auf die Bundesgesetzgebung insbesondere im Hinblick auf die dringendst notwendige Novelle der StVO. Durch Landesentwicklungsplanung und Siedlungsentwicklung, die die Notwendigkeit von Verkehr minimiert – insbesondere durch die Wiederherstellung von Versorgungsinfrastruktur in der Fläche und auf dem Lande. Durch die Schulung von Personal mit dem Ziel der Verankerung von Nachhaltigkeitszielen im operativen Handeln der Planungs- und Verwaltungsbereiche. Durch Förderung des Ausbaus des ÖPNVs. Durch Bereitstellung von Handlungsleitfäden und Musterlösungen für die Verkehrsplanung von Kreisen und Kommunen, wie sie bereits für Radverbindungen erfolgreich umgesetzt wurden. Durch eine Anpassung der Regelungen für Stellplätze in der Hessischen Bauordnung, so dass Kommunen angehalten sind, in Stellplatzsatzungen den Bau von Stellplätzen möglichst einzuschränken, statt zu fordern. Durch ein Ende von Großinvestitionen und der Subventionierung von (Regional-)Flughäfen; bzw. der Unterstützung beim Rückbau von Regionalflughäfen. 178 Siehe https://www.bdl.aero/wp-content/uploads/2019/08/BDL-Erklärung-Klimaschutz-1.pdf am 2.08.2019. In wie weit diese Pläne ernst gemeint sind, oder nur für einige Jahre den politischen Druck von dem Sektor nehmen sollen, wäre zu diskutieren. Bis der Luftverkehr dekarbonisiert werden kann, müssen jedoch noch große technische Herausforderungen (z. B. die großindustrielle Bereitstellung von strombasierten Kraftstoffen) gemeistert werden, die in jedem Fall mit erheblichen zusätzlichen Energie und Ressourcenverbräuchen einhergehen werden. Beides wird in der verbleibenden Zeit für die Einhaltung der Klimaschutzziele nicht möglich sein. Eine Begrenzung des Luftverkehrs auf das unbedingt erforderlich erscheinende Maß ist deshalb essentiell. 179 Bopst J, Herbener R, Hölzer O et al. (2019) Umweltschonender Luftverkehr. lokal – national – international. Umweltbundesamt TEXTE 130/2019. https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/umweltschonender-luftverkehr S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 49 Industrie sowie Gewerbe, Handel und Dienstleistungen (IGHD) Industrie und Gewerbe, Handel und Dienstleistungen sind auf eine verlässliche Versorgung mit ausreichender Energie angewiesen. Viele Industriesektoren arbeiten bereits ganz konkret an einer Dekarbonisierung ihrer Prozesse, diese Sektoren benötigen vorrangig die ermöglichende Unterstützung durch das Land, die Bundesrepublik und die Europäische Union; dabei haben diese Sektoren diesen Bedarf auch jeweils konkret 180 angemeldet . Sie mit dieser Aufgabe alleine zu lassen, wäre als Verhinderung von Klimaschutz zu interpretieren. Wesentlich ist hier wieder, für klimaschützende Verfahren, Prozesse und Produkte zumindest ein „level playing field“ zu erzeugen. Es gibt nach wie vor ganz erhebliche Einsparpotentiale in Industrie und Gewerbe, die es zu heben gilt. Dabei muss nicht jeder Prozess elektrifiziert werden; gerade der Bedarf an industrieller Prozesswärme, der auf 181 einem hinreichend niedrigen Temperaturniveau liegt , kann effizient und zu einem hohen Anteil mit Wärmepumpen, Solarthermie-, Geothermie- und anderen regenerativen Energien bereitgestellt werden. Wegen des oftmals für die Industrieunternehmen nicht unerheblichen Aufwands bei der Umstellung ihrer Prozesse sind sowohl die Schaffung angemessener ökonomischer Anreize als auch die Vereinbarung verbindlicher Klimaschutzziele unumgänglich. Erst zur Bereitstellung von Prozesswärme auf einem höheren 182 Temperaturniveau werden Stromdirektheizungen und Wasserstoff eine wesentliche Rolle spielen. Wissenschaftlicher Konsens ist, dass einige Formen von Energie, insbesondere gespeicherte Elektrizität oder 183 Brennstoffe aus Power-to-X deutlich teurer sein werden, als entsprechende Energie aus fossilen Quellen . Die hessische Wirtschaft benötigt, wenn Klimaschutz in Hessen betrieben werden soll, also nicht die Verhinderung von Veränderungen, sondern Unterstützung bei der Anpassung – dabei gehen wir davon aus, dass die Akteure in der Wirtschaft selber die passenden Lösungen finden und umsetzen können, sie aber dafür klare und verlässliche Randbedingungen benötigen; diese zu setzen ist die Aufgabe des Landes. Ein wesentliches Handlungselement gegenüber der Industrie können CO2-Zertifikate sein, wenn diese eine klare Botschaft transportieren, also die Verwendung von Energie aus fossilen Brennstoffen unattraktiv machen. Hier sollte sich Hessen für eine EU-Einheitliche Regelung einsetzen, die relevante also steuernde Kosten für fossile Energieträger erzeugt und die zugleich Importe mit zumindest vergleichbaren Kosten belegt. Maßnahmen zur Energieeffizienz können einen erheblichen Beitrag zur Reduktion des Energiebedarfs leisten, 184 wenn die Prozesse und Verfahren nicht bereits energetisch nahe am Limit laufen . Energieeffizienz leistet 185 jedoch alleine aufgrund von „Rebound“-Effekten oft keinen Beitrag zu einer Umstellung zu THG-neutralen Prozessen oder Verfahren. Hierzu bedarf es weitergehender technischer Änderungen in Prozessen. 180 Z.B. in Gerbert P, Herhold P, Burchardt J et al (2018) Klimapfade für Deutschland. Boston Consulting. https://www.bcg.com/de-de/publications/2018/climate-paths-for-germany 181 Etwa 27 % des industriellen Prozesswärmebedarfs fällt auf einem Temperaturniveau von unter 160°C an (zum Beispiel in Wasch- und Reinigungsprozessen, in der Galvanik und in der chemischen Industrie). 182 Die Anstrengungen für diese Umstellung sind heute zu erkennen, wobei jedoch die sichere Versorgung mit ausreichenden Mengen an regenerativ erzeugtem Wasserstoff (https://www.thyssenkrupp-steel.com/en/company/sustainability/climate-strategy/) hier eine der zentralen Hinderungsgründe einer Umsetzung sind. Z.B. Yilmaz C, Wendelstorf J, Turek T (2017) Modeling and simulation of hydrogen injection into a blast furnace to reduce carbon dioxide emissions. Journal of Cleaner Production 154: 488-501, https://doi.org/10.1016/j.jclepro.2017.03.162. 183 Als Zusammenschau und in durchgerechneten Beispielen z.B. Linow S (2019) Energie – Klima – Ressourcen. Hanser, München. 184 Insbesondere historisch gewachsene Anlagen sowie Standorte mit zentralen Versorgungsnetzen für Wärme, Kälte oder Drucklufthaben oft ein erhebliches Einsparpotential. 185 Auch Jevons-Effekt: Die an einem Ort eingesparte Energie wird dann an einer anderen Stelle eingesetzt, wodurch insgesamt keine Veränderung erfolgt. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 50 Eine große technische Herausforderung wird der Umgang mit schwankender Verfügbarkeit von günstiger Energie sein – direkt genutzte regenerative Elektrizität und Wärme ist vergleichsweise günstig, während 186 gespeicherte regenerative Elektrizität außerordentlich teuer werden kann . Hier werden dringend Wege 187 gesucht, wie eine gute Balance hergestellt werden kann: Die Grundstoffindustrie könnte grundsätzlich zurück zu saisonaler Planung und Umsetzung kehren, während dies z.B. für Rechenzentren unmöglich ist. In wie weit die im iKSP (2017) angegebene Reduktion des Wärmebedarfs in Industrie und Gewerbe durch Umstellung von Prozessen und Anlagen erreicht werden kann, oder ob dies durch eine Verlagerung der Industrien ins Ausland erfolgen soll, wofür dann fälschlicherweise die THG nicht in Hessen bilanziert werden, ist unklar. Grundsätzlich kann eine De-Industrialisierung Hessens nicht Teil eines sinnvollen Klimaschutzes sein. Gerade mit Blick auf die Ziele einer Kreislaufwirtschaft (bzw. aus Europäischer Perspektive eine Circular 188 Economy ) hier in Hessen, in Deutschland und in der Europäischen Union benötigen wir vor Ort eine leistungsfähige, moderne und zukünftig klimaneutrale Industrie einschließlich einer vollständigen Chemie-, 189 Grundstoff- und Schwerindustrie . Hessen ist historisch gewachsen eine Region mit einem sehr breiten Spektrum gerade auch an Grundstoff-Industrie, dieser bei der Umstellung zu klimaneutraler Produktion zu unterstützen könnte zentraler Gegenstand einer zukunftsorientierten Industriepolitik sein. Deutschland ist als Exporteur von Anlagen und Technologien insbesondere in den Bereichen Bergbau, sowie Schwer- und Grundstoffindustrie darauf angewiesen, neue Technologien selber entwickeln und weiter- entwickeln zu können. Es entsteht international ein großer Bedarf an Technologien, die den zukünftigen Rohstoff- und Materialbedarf weiter decken, eine echte Circular Economy ermöglichen und gleichzeitig schnell deutliche Beiträge zum Klimaschutz leisten. Hier besteht sehr viel Raum für die Verbindung von Klimaschutz und Wirtschaftspolitik und gute Chancen für eine zukünftige positive wirtschaftliche Entwicklung in Hessen, insbesondere wenn solche neuen Technologien hier in Hessen auch angewendet werden. Landnutzung (Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Landnutzungsveränderungen) Die Treibhausgas-Emissionen aus der Landwirtschaft stammen zum einen aus dem Diesel für Maschinen und Antriebe und zum zweiten aus der Düngung und der Viehhaltung; weitere nicht unerhebliche Beiträge kommen z.B. aus der Bewirtschaftung von Gebäuden und Anlagen, dem betrieb von Gewächshäusern (Heizung und Beleuchtung im Winter) und Bodenheizung für Früh- und Sonderkulturen (Spargel und Erdbeeren). Diese Emissionen können durch die im iKSP (2017) geplanten Maßnahmen in einem gewissen Maße reduziert, aber nicht vollständig beseitigt werden. Auch dadurch kommt der CO2-Bindung durch Pflanzen, insbesondere in den Wäldern, eine wichtige Rolle zu. 190 Daher ist die Klimaanpassung der hessischen Wälder ausgesprochen wichtig . Der Waldzustandsbericht 191 2019 für Hessen enthält Konzepte für die Wiederbewaldung. Die Möglichkeiten der Forstwirtschaft hängen jedoch am Erreichen der Klimaziele insgesamt und der dynamisch sich ändernden potentiellen Vegetation in Hessen in den nächsten Jahren (s.o.). In diesem Zusammenhang enthält der iKSP bereits als Maßnahmen die Unterstützung von Waldbesitzern beim Waldmanagement und für die Wiedervernässung von Moorböden. Hier fehlen konkrete Maßnahmen 192 zu den landeseigenen Wäldern (340.000 ha, knapp 40 % des gesamten Waldes ). Hier werden die relevanten Akteure klare Unterstützung bei der angewandten Forschung, der Entwicklung und der 186 Als Einführung Palmer G, Floyd J (2020) Energy Storage and Civilization. A Systems Approach. Springer, Cham. 187 Insbesondere in der mittelhessischen Industrieregion befinden sich viele Betriebe, die Stahl schmelzen, Graphit erzeugen oder andere wesentliche Prozesse der energieintensiven Grundstoffindustrie angewiesen sind. 188 https://ec.europa.eu/environment/circular-economy/ 189 Die Bereitstellung von Vormaterial benötigt Schwerindustrie. Recycling benötigt Schwerindustrie. Es ist nicht sinnvoll oder energie- und kosteneffizient, unseren gesamten Müll nach Asien zu transportieren, um ihn dort dann wieder in Vormaterial umwandeln zu lassen. Es stellt ein extremes strategisches und wirtschaftliches Risiko dar, keine eigene Grundstoffindustrie in Deutschland oder Europa zu haben. Z.B. Exner A, Held M, Kümmerer K [Hrsg.] (2016) Kritische Metalle in der Großen Transformation. Springer, Heidelberg. 190 Das Territorialprinzip der Allokation von THG-Emissionen verbietet es, hessische Emissionen mit Kompensationen außerhalb Hessens zu „mindern“. Die Kompensation muss auch in Hessen stattfinden – siehe Abschnitt zu Kompensationen. 191 https://umwelt.hessen.de/sites/default/files/media/hmuelv/wzbhessen2019_0.pdf. 192Waldbesitzer: Wem gehört der deutsche Wald?S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 51 Umstellung von Methoden und Prozessen benötigen. In diesem Segment sind Maßnahmen der Klimaanpassung, also der Adaption an gegebene Randbedingungen, nicht von den Maßnahmen zur Reduktion der THG-Emissionen zu trennen. Das Land könnte sich an den Zielen und Maßnahmen orientieren, die das Bundesamt für Naturschutz für den Waldumbau empfiehlt: Wälder mit natürlicher, ungelenkter Waldentwicklung ermöglichen Anpassungsprozesse in Reaktion auf Klimawandel. Daher trägt eine schnelle Erhöhung des Anteils solcher Wälder zu einer erhöhten Resilienz hessischer Forste bei, wie auch eine schonende und am Wald als Ökosystem ausgerichtete Bewirtschaftung, die Verbesserung von Wasserhaushalt und Wasserrückhalt, sowie Schutz der Waldböden. Der Anteil des Totholzanteils sollte unter Berücksichtigung der Waldbrandgefahr bewertet werden; allerdings werden alte Wälder und hohe 193 Totholzanteile benötigt, um Kohlenstoff in Wäldern zu speichern . Beides zusammen mit den heutigen und absehbaren Ertragsminderungen (z.B. durch Dürre, Hitze, Anpassung der Düngung) wird die Kosten heimischer Lebensmittel erhöhen. Um die heimische Land- und Forstwirtschaft zu stärken, werden dringend Prozesse benötigt, die den Import von Produkten erschweren, die als versteckte 194 Ströme hohe Umweltauswirkungen transportieren : Dies kann grundsätzlich durch eine Reduktion des Verzehrs tierischer Produkte, durch den Verbot von Futtermittelimporten aus Soja-Pflanzungen auf brandgerodeten ehemaligen Tropenwaldböden erfolgen. Dies kann nicht alleine auf Landesebene erfolgen, daher sollte die Landesregierung hier als Maßnahme formulieren, dass sie sich auf Bundes- und EU-Ebene massiv für diese Mechanismen einsetzt. Unabhängig davon ist es jedoch notwendig, dass diese Importe einschließlich der THG-Emission aus Nutzungsänderungen in der THG-Bilanz des Landes Hessen mitberücksichtigt werden (als importierte Flüsse). Die Reduktion von Lachgas-Emissionen aus der landwirtschaftlich genutzten Flächen können durch 195 Vermeidung der Überschüsse in der Stickstoff-Flächenbilanz erreicht werden. Zusätzlich sollte für die Verringerung und Vermeidung von Methanemissionen aus der Tierhaltung das Potential der Zufütterung von 196 marinen Rotalgen (Asparagopsis taxiformis) geprüft werden, welches in Pilotstudien die Methan- Emissionen um 80 % bis 90 % reduzieren konnte. Privathaushalte und Wohngebäude Der Stromverbrauch in Privathaushalten hängt zu einem gewissen Anteil von der Verwendung energie- effizienter Geräte und dem Konsumverhalten ab (Anzahl und Nutzung der Geräte). Hierauf konzentrieren sich Beratungsmaßnahmen des Landes. Klimaneutralität kann jedoch nur durch eine Versorgung mit Elektrizität erreicht werden, die ausschließlich auf erneuerbaren Energien beruht – siehe 7.2.1. Auch deshalb ist die Ermöglichung des Ausbaus ausreichender regenerativer Energietechnik in Hessen zentral. Im Gebäudebereich ist die Erzeugung von Wärme und die Kühlung wesentlicher Anteil des Energiebedarfs. Dieser Bedarf kann erheblich durch Dämmung reduziert werden, wobei Dämmung eigene Probleme 197 aufwirft - hierzu auch der nächste Abschnitt. Nicht berücksichtigt ist das im Hinblick auf Klimaschutz relevante Thema der CO2 Emission von Baustoffen, insbesondere Beton. Aus dieser Sicht wäre eine starke Reduktion der (betongebundenen) Bautätigkeit zielführend. Zur Zeit beobachtet man in Hessen eine sehr intensive Bautätigkeit: In den Städten werden dabei 193 Bundesamt für Naturschutz (2019) Wälder im Klimawandel: Steigerung von Anpassungsfähigkeit und Resilienz durch mehr Vielfalt und Heterogenität. Ein Positionspapier. Bonn, 194 Rindfleisch aus abgeholztem Regenwald, Viehfutter aus abgeholztem Regenwald, … 195 Häußermann U, Bach M, Klement L, Breuer L (2019) Stickstoff-Flächenbilanzen für Deutschland mit Regionalgliederung Bundesländer und Kreise – Jahre 1995 bis 2017 - Methodik, Ergebnisse und Minderungsmaßnahmen. UBA, Dessau-Roßlau, TEXTE 131/2019. 196 Machado L, Magnusson M, Paul NA, de Nys R, Tomkins N. (2014) Effects of Marine and Freshwater Macroalgae on In Vitro Total Gas and Methane Production. PLOS ONE 9: e85289. doi: 10.1371/journal.pone.0085289. Roque BM, Brooke CG, Ladau J, Polley T, Marsh LJ, Najafi N, et al. (2019) Effect of the macroalgae Asparagopsis taxiformis on methane production and rumen microbiome assemblage. Animal Microbiome 1: 3. doi: 10.1186/s42523-019-0004-4 197 Hier ist das absehbare Thema der Entsorgung beeindruckender Volumen von giftigem Schaumstoff oft diskutiert. Die Lebensdauer vieler Dämmungen liegt mit etwa 30 Jahren um eine bis zwei Größenordnung unter der von den gedämmten Gebäuden. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 52 198 oft ganze Blocks versiegelt, so dass zukünftig keine Verdunstung oder Versickerung mehr auftritt . Im hessischen Ried verschwinden Landstriche unter Logistikzentren, siehe Abbildung 9. Um diesen irreversiblen 199 Verlust an Fläche zu unterbinden , sollte für jegliche Bautätigkeit prioritär die Nachnutzung bereits existierender Flächen und Gebäude angestrebt werden, falls Neubauten erforderlich sind, sollten diese mit möglichst geringem Beton-Anteil und ausschließlich auf bereits heute versiegelten oder bebauten Flächen erfolgen. Zusätzliche Flächenversiegelung sollte strikt vermieden werden – als Konzept einer Flächen- „Effizienz“. In Hessen sind die rund 1,4 Mio. bestehenden Wohngebäude für 26 % aller CO2-Emissionen verantwortlich (insbesondere durch den Bedarf an Wärmeenergie). Wohngebäude stellen mit Abstand den größten Anteil am Gebäudebestand dar (IKSP (2017) S. 34). Das technische Einsparpotenzial im Wärmebereich bei Gebäuden ist erheblich und von großer Bedeutung. Das Land Hessen sieht die Verantwortung für die wesentlichen Rahmenbedingungen in diesem Sektor bei der Bundesregierung. Neubauten müssen entsprechend dem Gebäudeenergiegesetz (GEG) 2020 ab 2021 nach dem Niedrigst-Energiehaus-Standard geplant und gebaut werden. Ältere Bestandsgebäude haben dagegen oft einen vergleichsweise sehr hohen Wärmeenergieverbrauch. Es gibt bisher gemäß der Energie- einsparverordnung (§ 9 EnEV) nur bei bestimmten umfangreichen Änderungen an diesen Gebäuden Anforderungen zur Einhaltung von Dämmungsstandards. Die Klimaschutzmaßnahmen für Bestandsgebäude zielen daher auf Beratungs- und Informationshilfen zur Dämmung der Gebäude und zur Modernisierung der 200 Heizungsanlage durch die Eigentümer . Es ist als Maßnahme zu klären, in wie weit finanzielle 201 Förderungsprogramme für Eigentümer hier einen Beitrag leisten können . Abbildung 9 – Das hessische Ried und die irreversible Versiegelung von Ackerland: Durch immer weiter ausgreifende Umgehungsstraßen werden Siedlungsgrenzen verschoben (Stockstadt, Biebesheim) 202 und diese „Freiflächen“ dann als Gewerbegebiet versiegelt . 198 In Darmstadt z.B. Ingelheimer Gärten, Echo-Gelände oder Berliner Allee. 199 Dieser Verlust an Fläche ist einer der Treiber für den zunehmenden Import von landwirtschaftlichen Produkten und damit der Zerstörung von Ökosystemen woanders. Fuchs R, Brown C, Rounsevell M (2020) Europe’s Green Deal offshores environmental damage to other nations. Nature 586, 671-673. https://www.nature.com/articles/d41586-020-02991-1 200 Zu den Schwierigkeiten jedoch Führ M, Rudolph-Cleff A, Bizer K, Cichorowski G (2018) Dämmen allein reicht nicht. Oekom. 201 Dies wäre auf unterschiedlichen Ebenen möglich, wie die Landesförderprogramme von Baden-Württemberg zeigen. https://um.baden-wuerttemberg.de/de/energie/informieren-beraten-foerdern/foerdermoeglichkeiten/foerderprogramme- wohngebaeude/ 202 Google-Earth S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 53 Neben Dämmung und Heizungsmodernisierung liegt eine wesentliche Möglichkeit im Ersatz fossiler durch erneuerbare Energie, die insbesondere in waldreichen Regionen schnell einen erheblichen Teil der Wärmeenergie in Haushalten decken kann. Voraussetzung ist, dass zugleich der Verbrauch deutlich reduziert 203 wird . Gleichzeitig werden regenerative Möglichkeiten der Bereitstellung von Wärme benötigt, wie Solarthermie und Geothermie. Hier wird als Maßnahme des Landes die Ermöglichung der schnellen Umstellung durch geeignete regulatorische und planerische Werkzeuge benötigt. Weitere konkrete Maßnahmen, die jeweils bewertet und den einzelnen Akteuren zugeordnet werden sollten, sind: 204 Verbot von Ölheizungen Verbindliche Erstellung von Wärmeleitplänen in allen größeren Kommunen – Vorbild Baden- Württemberg. 205 Verbindliche Dekarbonisierungsfahrpläne für Wärmenetze . 206 Verpflichtung zur Solarenergienutzung 207 Verbindliche Vorgaben für den Wärmeschutz über die Bundesgesetzgebung hinaus Verbot von Stromdirektheizungen höherer Leistungsklassen (HH KSG §11) Beschränkungen bei Klimatisierung: mechanische Raumlüftung, Neuinstallation von Klimaanlagen, … Langfristige Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive im einschlägigen Handwerk zur Vermeidung künftiger Engpässe Abfall und Abwasser Der Beitrag dieses Bereiches zur THG-Emission ist vergleichsweise gering, gleichzeitig sind dies zentrale Bereiche der Daseinsvorsorge. Bisherige Maßnahmen zielen auf eine technische Optimierung bestehender Anlagen (energetische Nutzung von Bio- und Grünabfall, energieeffiziente Kläranlage, Elektrifizierung der Prozesse und Nutzung regenerativer Elektrizität). Dies kann und soll fortgesetzt werden. Die Verminderung des Aufkommens an Siedlungsabfällen soll aus der Circular Economy Strategie der EU folgen. Eine ernsthafte Umsetzung dieser Strategie hat tiefgreifende Auswirkungen auf gewerbliche Strukturen auf kommunaler Ebene und industrielle Strukturen in größeren räumlichen Zusammenhängen. Die Diskussion geht über das Ziel dieses Berichtes hinaus, siehe aber Abschnitt 7.2.4. 7.3 Ausblick – Wasserstoff-Strategie Mit der Förderung von Wasserstoffregionen in Hessen sollen Kommunen und Regionen gezielt dazu motiviert werden konkrete Ideen für integrierte Konzepte zu entwickeln, Pläne zu konkretisieren und auszuarbeiten, beziehungsweise diese Pläne mit Unterstützung der Bundesregierung umzusetzen. In der Förderung werden dabei die variierenden Wissens- und Erfahrungswerte der unterschiedlichen Regionen berücksichtigt. 203 Z.B. Integriertes Klimaschutzkonzept für den Main-Taunus-Kreis – Abschlussbericht des Witzenhausen-Institut für Abfall, Umwelt und Energie GmbH. 204 Siehe Hamburger Klimaschutzgesetz HH KSG §12: „Der Neuanschluss von Heizkesseln, die mit flüssigen fossilen Brennstoffen betrieben werden, ist nach dem 31. Dezember 2021 unzulässig. ... Das Verbot nach Absatz 1 gilt auch für den Austausch und Ersatz von Heizkesseln nach dem 31. Dezember 2025 ..." 205 Siehe z.B. HH KSG, §10 206 Als Beispiel HH KSG, §16, „Die Eigentümerinnen und Eigentümer von Gebäuden ... Baubeginn nach dem 1. Januar 2023 liegt, haben sicherzustellen, dass Anlagen .. errichtet und betrieben werden ... gilt auch bei vollständiger Erneuerung der Dachhaut eines Gebäudes, die nach dem 1. Januar 2025 begonnen wird“ 207 Das HH KSG §15 ermächtigt den Senat entsprechende Rechtsverordnungen z.B. bzgl. Transmissionswärmeverlusten zu erlassen. Wie wäre das auf Hessen übertragbar? S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 54 208 Konkret sollen gemäß aktueller Förderrichtlinien Mittel vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) abgerufen werden, um die Marktaktivierung für Produkte, die die technische Marktreife erzielt haben, am Markt jedoch noch nicht wettbewerbsfähig sind, zu ermöglichen (dies wäre ein Beitrag zur Herstellung eines „level playing fields“). Dies umfasst: Förderung von Elektrolyseanlagen zur Wasserstoffherstellung. Förderfähig sollen Elektrolyseanlagen mit einer Mindestleistung der Gesamtanlage von 250 KW sein. Insbesondere soll dabei geachtet werden auf (i) Netzdienlichkeit in Bezug auf die Einbindung in das deutsche Stromnetz, (ii) Belieferung für konkrete Verkehrsanwendungen (ÖPNV, Bahn etc.), (iii) Anlagen, die keine EEG- Förderung erhalten. Förderung eines Wasserstoff-Tankstellennetzes an strategisch bedeutsamen Verkehrskotenpunkten. Bei der Förderung muss darauf geachtet werden, dass der Wasserstoff aus regenerativ erzeugter Elektrizität erzeugt wird. Markteinführung von wasserstoffbetriebenen Fahrzeugen für den ÖPNV (Busse, Bahn) und kommunaler Nutzfahrzeuge. Da die Speicherung von Wasserstoff ausgesprochen energieintensiv ist sollten andere Konzepte 209 insbesondere für LKW und Bahn untersucht werden, wie Ammoniak oder andere synthetische Treibstoffe. Die Förderung von dezentraler Wasserstoffherstellung im Verbund mit dezentraler Speicherung für die Versorgung von einzelnen Haushalten (Kleinanlagen) sollte zumindest geprüft werden. Neben der Förderung von elektrisch betriebenen Fahrzeugen, sollten Technologien ausgerollt werden, die den Jahresgang der solaren Einstrahlung (PV) komplementär ergänzen (Winterbetrieb, höhere Verfügbarkeit, höhere Nutzlast). Wasserstoff und daraus abgeleitete Brennstoffe stellen hier eine der möglichen 210 Technologien dar . 7.4 Treibhausgase Abscheiden oder Kompensieren Ein Aspekt, der im iKSP (2017) fehlt, sind Maßnahmen der aktiven Entnahme von Treibhausgase aus der Atmosphäre sowie die Kompensationen von Emissionen. Abscheidung meint hier konkret, dass Treibhausgase der Atmosphäre wieder entzogen und dann über geologisch langfristige Zeiträume so gelagert werden, dass sie nicht wieder in die Atmosphäre gelangen können. Kompensationen sind Maßnahmen, bei denen Emissionen, die an einem Ort entstehen, durch verringerte oder negative Emissionen an einem 211 anderen Ort ausgeglichen werden sollen . Abscheiden und Entfernen von Treibhausgasen Es sind keine Maßnahmen für die aktive Abscheidung von Treibhausgasen in Hessen bekannt. Die hessischen Kohle- und Gaskraftwerke stellen größere Punktquellen dar, an denen Carbon Capture and 212 Storage (CCS) implementiert werden könnte . Gleichzeitig bietet Hessen großes Potential für echte langfristige geologische Bindung von Kohlendioxid; Insbesondere das vulkanische Gestein des Vogelsbergs und andere Mittelgebirge stellen ideale Quellen für Material dar, dass bei schneller Verwitterung erhebliche Mengen an Kohlendioxid aus der Atmosphäre 213 bindet . 208 BVMI (2017) Maßnahmen der Marktaktivierung im Rahmen des Nationalen Innovationsprogramms Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie Phase 2 (Schwerpunkt Nachhaltige Mobilität) 209 https://insights.thyssenkrupp-industrial-solutions.com/story/small-scale-green-ammonia-plants-open-up-new-storage- possibilities-for-wind-and-solar-power/ 210 Palmer G, Floyd J (2020) Energy Storage and Civilisation. A Systems Approach. Springer, Cham. 211 https://www.umweltbundesamt.de/themen/freiwillige-co2-kompensation 212 AREPO Consult, Lankwitz Institut (2020) Optionen für einen vorzeitigen Kohleausstieg in Hessen. Kurzstudie für das HMUKLV. 213 Beerling DJ, Kantzas EP, Lomas MR et al (2020) Potential for large-scale CO2 removal via enhanced rock weathering with croplands. Nature 583. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 55 Die Rolle der hessischen Wälder als Kohlenstoff-Senke steht aufgrund der sich ändernden Niederschlags- Strukturen in Hessen zur Disposition. Hier ist heute nicht absehbar, ob diese Wälder eine solche Aufgabe langfristig sicher übernehmen können. Hierbei genügt nicht die reine Existenz von Wäldern, sondern diese Wälder müssen stetig Kohlenstoff binden und langfristig im Boden lagern, um als Senken zu wirken: Die Kombination von Dürre und Waldbrand, aber auch der Umbau des Baumbestandes setzen jeweils Kohlenstoff frei, statt ihn langfristig zu binden. Kompensation Kompensationen, die selber innerhalb Hessens stattfinden, sind aufgrund des Territorialprinzips des iKSP (2017) direkt mindernd zu verbuchen. Kompensationen außerhalb des hessischen Territoriums sind kritisch zu bewerten. Kompensationen außerhalb Hessens sind, wie andere Exporte, im Rahmen des heute angewendeten 214 Territorialprinzips nicht zu bewerten, weder positiv, noch negativ . Erst eine Berücksichtigung von Importen von Emissionen erlaubt die Berücksichtigung von Kompensationen außerhalb des hessischen Territoriums. Kompensationen sind zumeist keine negativen Emissionen, sondern nur Reduktionen an anderem Ort. Sie tragen daher dann nicht zu einer globalen oder systemischen Klimaneutralität bei. Ansätze, die Kohlendioxid in Biomasse speichern sollen, binden THG nur über die Lebensdauer der Biomasse sicher. Ob sie tatsächlich eine über geologische Zeiträume relevante Bindung von THGs 215 darstellen, hängt von sehr vielen Randbedingungen ab . Dabei sind die meisten dieser Bedingungen außerhalb der Einflussmöglichkeiten der Akteure in Hessen – hessische Akteure können nicht sicherstellen, dass diese Maßnahmen wirken. In wie weit die Vorbereitung oder Sicherung der Kompensationsmaßnahme selber weniger THG emittiert, als die Kompensationsmaßnahme dann bindet, entzieht sich oft dem Zugriff oder der 216 Beurteilung in Hessen . 214 Zum zumeist verwendeten BISKO-Standard z.B. https://www.ifeu.de/projekt/klimaschutz-planer/ 215 Zum Beispiel davon, wie sich der Standort durch den Klimawandel verändern wird und ob dort z.B. zukünftig noch Wald existieren kann, siehe z.B. Staal A, Fetzer I, Wang-Erlandsson L et al. (2020) Hysteresis of tropical forests in the 21st century. Nature Communications 11: 4978, https://doi.org/10.1038/s41467-020-18728-7. 216 Zu den vorbereitenden Maßnahmen gehören Rodung, Zäune, Vertreibung von Bevölkerung ohne Landtitel. Zu den sichernden Maßnahmen gehören Zäune, Ranger, Polizei-Einsätze. Implizit hierzu auch Fuchs R, Brown C, Rounsevell M (2020) Europe’s Green Deal offshores environmental damage to other nations. Nature 586, 671-673. https://www.nature.com/articles/d41586-020-02991-1 S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 56 8 Maßnahmen zur Klimaanpassung Die Maßnahmen zur Klimaanpassung sind auf acht benannte Bereiche verteilt. Die Reihenfolge oder Gewichtung der Bereiche folgt keiner formulierten Logik. Als Motivation für Klimaanpassung ist formuliert, eine „frühzeitige Anpassung auf absehbare Klimaveränderungen kann Risiken minimieren und Chancen eröffnen“ (iKSP (2017), S. 37). Es ist hier insbesondere zu klären, ob die relevanten Risiken (i) erkannt, (ii) benannt und (iii) durch die angegebenen Maßnahmen in notwendiger Form adressiert werden. Weiter muss das Konzept „frühzeitig“ hinterfragt werden. Zuletzt ist zu klären, was hier als Chancen zu verstehen ist. Von besonderer Bedeutung ist der von der Landesregierung selbst gesetzte Verantwortungsrahmen, „Sensibilität für die Notwendigkeit schaffen und Anpassungsprozesse unterstützen“ (iKSP (2017), S. 37.). Hier ist zu klären, ob dies (i) ausreichend ist und (ii) dem Verantwortungsbereich der Landesregierung entspricht (s.u.). Für alle einzelnen Bereiche werden im iKSP (2017) zuerst Handlungsbedarfe formuliert, bevor die eigentlichen Maßnahmen formuliert werden. Es ist zu klären, (i) ob der identifizierte Handlungsbedarf in ausreichendem Maße absehbare Risiken vollständig und richtig beschreibt, (ii) ob die Maßnahmen genügen, den Handlungsbedarf im Sinne einer Risikominderung ausreichend abzudecken, also die identifizierten Risiken ausreichend zu mindern, sowie (iii) welche anderen Maßnahmen ggf. geeignet sind. Klimaanpassung im Bereich Energie Die identifizierten Risiken sommerlicher Dürreperioden sind für fossile Energieträger von Relevanz. Hier werden keine Maßnahmen abgeleitet. Dies sollte bei den Klimaschutzmaßnahmen diskutiert werden. Wesentliche identifizierte langfristige Risiken umfassen (i) Temperatureffekte auf das elektrische Netz und den Wirkungsgrad von Kraftwerken sowie (ii) mögliche Schäden durch Starkwetterereignisse an der gesamten Infrastruktur. Auch Photovoltaik ist von nachlassendem Wirkungsgrad mit zunehmender 217 Umgebungstemperatur betroffen . Als wesentlicher Akteur für eine Klimaanpassung der Energie-Infrastruktur sind die Betreiber benannt. Starke wetterabhängige Variationen des Verbrauchs werden benannt. Allerdings fehlt deutlich die mit einer vorrangig oder rein regenerativen Energieversorgung einhergehende Entkopplung von Erzeugung und Bedarf von insbesondere elektrischer Energie. Da absehbar die Energiewende als Elektrifizierung angestrebt ist, 218 stellt dies eine eigene Risikoquelle mit weitreichenden Abhängigkeiten dar . M 5.1.1 (Austausch) Dies ist keine Maßnahme des Landes. M 5.1.2 (Pilotprojekte thermische Energiespeicher) Dies zielt nicht auf eine konkrete Umsetzung jetzt, sondern stellt langfristig angelegte Forschung dar, außer das Land würde jetzt eine großtechnische Umsetzung anstreben. Diese beiden Maßnahmen werden der Bedeutung einer robusten Energieversorgung der hessischen Gesellschaft vor den erwarteten Herausforderungen von Energiewende und hoch-dynamischer Klimaänderung nicht gerecht. Sie erwecken so den Eindruck, das Problem, wie man zukünftig eine ausreichende Versorgung der Gesellschaft mit Energie sicherstellt, sei noch nicht ausreichend verstanden. Ob die Energieversorger alleine und mit dem in einem für eine Energiewende möglicherweise ungeeignet regulierten Markt diese Risiken schnell in ausreichender Geschwindigkeit bewerten und vermeiden können, muss bezweifelt werden. 217 Quaschning V (2019) Regenerative Energiesysteme. Hanser, München. 218 Eine detaillierte Diskussion z.B. in Palmer G & Floyd J (2020) Energy Storage and Civilization. A Systems Approach. Springer, Cham. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 57 Klimaanpassung im Bereich Wirtschaft Die Diskussion zu Wirtschaft ist in starkem Maße von einem „business as usual“ Ansatz geprägt. Der Schwerpunkt scheint sich eher auf Multinationale Konzerne mit Sitz in Frankfurt oder Aktivitäten in Hessen und weniger auf hier ansässige kleine und mittelständige Unternehmen (KMUs) zu konzentrieren. M 5.2.1 (Green Finance Cluster) Es bleibt unklar, welchen konkreten Beitrag zu einer Klimaanpassung der Wirtschaft allgemein oder des Landes Hessen im Besonderen diese Maßnahme verfolgt. M 5.2.2 (Wetterprognosen) Dies betrifft alle Akteure in Hessen, nicht nur die Wirtschaft – siehe Kapitel 4. Klimaanpassung im Bereich Verkehr Die Diskussion zum Thema Verkehr ist in starkem Maße von einer „business as usual“ Perspektive geprägt, 219 es wird davon ausgegangen, dass sich Verkehrsaufkommen und der Modal-Shift nicht wesentlich ändern, also dass auch in Zukunft weiter motorisierter Individualverkehr im Vordergrund steht. M 5.2.1 (Sicherung und Anpassung) Hier fehlen auffällig die klassischen Methoden, wie Alleen-Pflanzung. Landstraßen und Straßen in Siedlungen waren bis zum Beginn der Umwandlung von Städten, Siedlungen und Straßen in „autogerechte“ Strukturen großflächig von Bäumen gesäumt, die mit dem Ziel, Schatten zu spenden, gepflanzt waren. Diese Strukturen bieten den gewünschten Effekt und haben weitreichenden 220 Zusatznutzen insbesondere in Städten . Zugleich ist uns bewusst, dass Alleen für die Verkehrs- sicherheit motorisierten Verkehrs problematisch sind, dass das Land nur an Landesstraßen selber direkt aktiv werden kann, und dass hier oft Flächenkonkurrenz vorliegt. M 5.2.5 (ÖPNV bei Extremwetterlagen) Diese Maßnahme ist grundsätzlich sinnvoll. Sie hat eine hohe soziale Komponente, da gerade sozial schwache auch bei extremer Hitze nicht auf gut gekühlte PKW ausweichen können. In diesem Bereich ist der sehr begrenzte Blick auf einen Status-Quo automobiler Mobilität unter Vernachlässigung der Wechselwirkung mit allen anderen Aspekten bebauter Strukturen auffällig. In Siedlungen können Verkehrsinfrastruktur und Gebäude (siehe dort) nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Hier fehlt eine systemische Sichtweise. Land und Kommunen können in diesem Bereich durch Regularien gestalten. Dieser Gestaltungsraum ist nicht berücksichtigt. 221 Mit zunehmender Vernetzung und Elektrifizierung nimmt die Resilienz des Verkehrssystems grundsätzlich ab, wenn nicht gegengesteuert wird. Hierzu fehlen Maßnahmen – es scheint, dass diese Aspekte noch nicht im Sinne einer Risikobetrachtung auf Landesebene untersucht wurden, bzw. Ergebnisse aus einer solchen Risikobetrachtung noch nicht auf Landesebene berücksichtigt werden. Klimaanpassung im Bereich Kultur, Sport, Freizeit Dieser Bereich ist aus sozialen Gründen bedeutsam. Es werden einige wichtige Aspekte dargestellt. Allerdings sind viele Aspekte eher im Zusammenhang mit Siedlungen und Städten zu diskutieren. 219 Die Verteilung individueller Fortbewegung auf unterschiedliche Moden, also PKW, ÖPNV, Fahrrad, zu Fuß, … 220 Aufgrund der begrenzten Flächen im besiedelten Bereich können grundsätzlich alle Maßnahmen zu einer Klimaanpassung, wie Begrünung, Reduktion der Aufheizung, Modal-Shift, usw. nur mit einer Reduktion der Fläche für motorisiertem Individualverkehr erreicht werden. 221 Hier verstanden als Möglichkeit, mit Störungen flexibel umzugehen und dabei den Betrieb im Wesentlichen aufrecht zu erhalten. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 58 Klimaanpassung im Bereich Gesundheit und Bevölkerungsschutz Im Handlungsbedarf werden wichtige Risiken benannt: Infektionskrankheiten und Hitze als indirekte und direkte Folge von Erwärmung, sowie Hochwasserereignisse. Es fehlt der gesamte Aspekt der Luftver- 222 schmutzung durch Waldbrände und Staub . Auffällig ist die Vermeidung der Diskussion sozialer Aspekte (Annahme 21). Auch in Hessen sind ärmere Quartiere der Städte durch Verdichtung und Versiegelung gekennzeichnet, so dass gerade diese Bereiche besonders unter Hitze leiden. Dies gilt nicht nur für Wohngebäude, sondern auch für staatliche Infrastruktur, wie Schulen oder Kindergärten. Dazu kommt, dass wohlhabendere Personen ggf. Klimatisierung einsetzen können, oder sich sommerlicher Hitze auf Landsitzen entziehen können. Klimaanpassung im Bereich Gesundheit ist immer Sozialpolitik. Gerade im Bereich Gesundheitsvorsorge sind viele Risikofaktoren bekannt. Die Literatur ist umfangreich und 223 Maßnahmen sind naheliegend . M 5.5.1 (HHAP) Wird bereits heute dringend benötigt. M 5.5.2 (Vektorerkrankungen) Wird absehbar benötigt, hier ist das HLNUG bereits aktiv. M 5.5.4 (klimaangepasste Schule) Schulen in Gebäuden, die ausreichenden Schutz vor den Witterungen bieten, sollte ein Kennzeichen Hessens sein. Der Sanierungsstau bei Gebäuden für Schulen und Kindergärten, wie auch z.T. bei Hochschulen ist beeindruckend. Leider umfasst dieser Stau auch andere öffentliche Gebäude, so dass über lange Monate viele Arbeitsplätze täglich 26 °C überschreiten. Der damit einhergehende Verlust an Lernerfolg und Arbeitsleistung könnte inzwischen größer sein, als der finanzielle Aufwand einer angemessenen Sanierung. M 5.5.5 (Trinkwasserqualität) Wird heute benötigt. Zusätzlich stellt absehbar die Versorgung des Landes mit Trinkwasser eine komplexe Aufgabe dar, wobei dieser Aspekt vernachlässigt ist (möglicherweise aufgrund der gewählten Systemgrenzen, siehe Annahme 20 und Annahme 19). Zukünftig wird die Landesregierung hier die Interessen vieler Gruppen ausgleichen müssen. Es kann notwendig werden, planungsrechtliche Freiräume für neue Strukturen und Maßnahmen zu schaffen. M 5.5.6 (Stromausfall) Die Maßnahme ist sinnvoll. Ist sie ausreichend dimensioniert? Der Maßnahmenkatalog ist erstaunlich klein und lückenhaft dafür, dass hier wesentliche Elemente der grundlegenden Daseinsvorsorge abgehandelt werden. 222 IPCC (2018) Global warming of 1.5 °C. An IPCC Special Report on the impacts of global warming of 1.5 °C above pre-industrial levels and related global greenhouse gas emission pathways, in the context of strengthening the global response to the threat of climate change. https://www.ipcc.ch/sr15/ 223 Watts N, Amann M, Ayeb-Karlsson S et al. (2018) Countdown on health and climate change: from 25 years of inaction to a global transformation for public health. The Lancet 391: 581-630, https://doi.org/10.1016/S0140-6736(17)32464-9. Dazu auch Fußnote 137. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 59 Klimaanpassung im Bereich Gebäude Der Bereich Gebäude fokussiert auf einzelne Gebäude und Elemente von Infrastruktur. Es werden einige Risiken benannt, jedoch verwundert, dass hier nur einzelne Gebäude, jedoch nicht der Zusammenhang als Siedlung oder der Zusammenhang von Gebäude mit seiner Umgebung adressiert wird. Im gegebenen Fokus sind die Maßnahmen als erster Schritt zu verstehen. Allerdings entstehen die wesentlichen Risiken erst aufgrund des Zusammenhanges von Gebäuden mit ihren Umgebungen. M 5.6.1 (Haus und Hofbegrünung) Diese Maßnahme ist rein freiwillig und daher wenig geeignet, in schwierigen Quartieren Akteure zu 224 erreichen . Sie erreicht eher wohlhabende Quartiere, die eine solche zusätzliche Förderung nicht bedürfen. M 5.6.2 (Hitzeschutz) 225 Diese Maßnahme ist rein freiwillig und daher wenig geeignet, wichtige Akteure zu erreichen . Insbesondere ist in Frage zu stellen, ob eine angenommene Vorbildfunktion wahrgenommen wird, wenn gleichzeitig maximale Verdichtung und Nachverdichtung zu günstigen Baukosten ein Politikziel ist. M 5.6.3 (Gebäude in hochwassergefährdeten Gebieten) Solche Gebäude stehen am falschen Ort. Sie hätten nicht genehmigt werden dürfen. Dies ist häufig das Ergebnis langjährigen Versagens von angemessener Planung und Lenkung, bzw. das Ignorieren 226 von selten eintretenden Ereignissen mit sehr hoher Auswirkung . Versickerung ist im Überflutungsfall von im besten Falle marginaler Bedeutung im Hinblick auf das Absinken des Wasserspiegels nach der Flut. In diesem Abschnitt fehlen insgesamt alle Effekte, die durch Gebäude am falschen Ort entstehen: Siedlungen im Flutbereich von Gewässern o.ä. Es fehlen insgesamt alle Effekte, die durch Siedlungsstrukturen entstehen. Es fehlen alle sozialen Aspekte des Themas: Quartiere mit hoher Gefährdung sind zumeist durch sozial schwache Bewohner:innen gekennzeichnet, schon weil die Lebensbedingungen durch Hitze und Luftverschmutzung die Mietstruktur festlegen. Land und Kommunen können hier durch Regularien gestalten. Dieser Gestaltungsraum ist nicht berücksichtigt. Klimaanpassung im Bereich Wasserhaushalt, Hochwasser, Wasserwirtschaft Bemerkenswert ist das Fehlen einer Betrachtung zu Wassermangel. Dürre ist das bestimmende Problem der Wasserwirtschaft hier in Hessen. Das Risiko war auch 2015 bereits absehbar. Vermutlich verbirgt sich hinter „Klimaänderungsfaktoren“ die Berücksichtigung der sich verändernden Risiken für Deiche aufgrund eines neuen Klimas? 224 Gegenstand des Forschungsprojektes Systeminnovation Nachhaltige Entwicklung (s:ne) an der Hochschule Darmstadt (h_da) ist die Mollervorstadt in Darmstadt. Diese ist typisch für sozial schwierige Quartiere mit komplexer Eigentümerstruktur, extremer Versiegelung und besonders hohen Risiken bei Hitze. In dem Vorhaben wurde deutlich, dass dort solche freiwilligen Programme nicht die Eigentümer erreichen, sodass auf diesem Wege keine Veränderung des Zustandes ermöglicht wird. Erst durch Regularien, d.h. Zwang, wäre hier eine wesentliche Veränderung zu erwarten. 225 Größere neue Wohnanlagen, Umwandlung von Quartieren usw. erfolgt zumeist durch externe Investoren. Aktuelle Projekte (in Darmstadt) sind durch Maximierung der gebauten Wohneinheiten geprägt, dies führt zu einem deutlichen Mangel an Rücksichtnahme auf Hitzeschutz. Enge, schlitzartige Strukturen in Kombination mit hoher Geschosszahl, vollflächige Unterkellerung für Tiefgaragen usw. führt zu risikobehafteten Strukturen. Zu den Mechanismen, die gerade in Wachstumsstrukturen Risiken erzeugen, siehe Thierney K (2014) The Social Roots of Risk. Producing Disasters, Promoting Resilience. Stanford University Press. 226 Auch hierzu Thierney K (2014) The Social Roots of Risk. Producing Disasters, Promoting Resilience. Stanford University Press. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 60 Klimaanpassung im Bereich Land-und Forstwirtschaft, Biodiversität Die in Hessen stattfindenden Veränderungen aufgrund des hoch-dynamischen Klimawandels sind im Handlungsbedarf vorsichtig angesprochen. Die Dürresommer 2018, 2019 und 2020 haben jedoch die Situation in Hessen deutlich verändert, was im iKSP noch als mögliches Risiko benannt wird, findet inzwischen konkret statt. Das im iKSP nicht benannte Risiko, dass es zu grundlegenden Änderungen von Vegetationszonen und damit möglichen Land- und Forstwirtschaftlichen Wirtschaftsformen kommen kann, ist inzwischen konkret vorstellbar geworden (siehe Anhang oben). Es fehlt grundsätzlich der Aspekt einer langfristigen Sicherstellung der Versorgung mit Lebensmitteln. Dies muss als zusätzliches Risiko benannt werden, wenn es zu deutlichem Verlust von landwirtschaftlich nutzbarer Fläche (Trockenheit), Einbruch von Erträgen (Hitze), oder möglichen Wirtschaftsformen kommt. Ein weiterer fehlender Aspekt ist der absehbare Verlust von heute vorhandenen Ökosystemen. Dies hat konkret Auswirkungen auf Flächenplanung und Flächennutzung, insbesondere die Struktur von Nutzungsbeschränkungen. M 5.4.1 (Risikokarten Forst) Die Maßnahme ist ausgesprochen wichtig. Sie sollte auf landwirtschaftlich genutzte Flächen ausgeweitet werden, um allen Akteuren in diesem Bereich Entscheidungsgrundlagen zur Verfügung zu stellen. In wie weit vorhandene Wälder „gesichert“ werden können, darf bezweifelt werden, da durch das geänderte Klima die Voraussetzung für die Artenzusammensetzung heutiger Wälder nicht mehr besteht. Die stattfindende Klimaänderung sorgt dafür, dass an Standorten innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte andere Klimazonen vorliegen, die als potentielle Vegetation jeweils völlig andere Artenzusammensetzungen hätten und die insbesondere falls sich der Trend zu Sommerdürre verfestigt, nicht unbedingt Wald sein müssen. Insbesondere auf den Kuppen und auf sandigen Böden steht Wald in Hessen inzwischen unter starkem Vorbehalt – siehe Abbildung 10. M 5.4.2 (Biotopverbund) Dies ist keine spezifische Maßnahme einer Klimaanpassung, sondern muss als Notwendigkeit angesehen werden, um biologische Vielfalt zu erhalten, da z.Zt. die Inselwirkung viele Bestände bedroht. Die hier verwendete Grundannahme, dass der Klimawandel ausreichend langsam abläuft, dass Zeit für Wanderungsbewegung von Tieren und Pflanzen gegeben ist, muss zumindest hinterfragt 227 werden. Nicht alle Arten können ausreichend schnell wandern . Hierzu existieren bereits konkrete Ergebnisse der zu Auswirkungen des Klimawandels auf hessische 228 Arten und Lebensräume in der Liste potentieller Klimaverlierer . Diese Ergebnisse sollten berücksichtigt werden, um Schutzkonzepte zukünftig dynamisch zu gestalten. M 5.4.3 (Böden) Siehe 5.4.1, Böden sind neben Klima wesentliche Standortfaktoren – diese gehören daher zusammen. M 5.4.4 (Handlungsstrategie Wasserhaushalt) Es konnte keine solche Handlungsstrategie recherchiert werden. Hier besteht jedoch schneller hoher Handlungsbedarf bei der Umsetzung von Maßnahmen zur langfristigen Verfügbarkeit von Wasser für alle Bereiche in Hessen. Die Maßnahme wirkt daher zu klein gedacht und zu langsam angesetzt. M 5.4.5 (ökologischer Hochwasserschutz) Grundsätzlich sind alle Maßnahmen zu bevorzugen, die auf Ökosystem-Services zurückgreifen, statt technische Lösungen zu suchen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass solche Arten und Strukturen eingesetzt werden, die auch mit zukünftigem Klima zurechtkommen. 227 Ellenberg H (1986) Vegetation Mitteleuropas mit den Alpen. Ulmer, Stuttgart. 228 Schwenkmezger L (2019) Auswirkungen des Klimawandels auf hessische Arten und Lebensräume – Liste potentieller Klimaverlierer. HLNUG, Wiesbaden. Naturschutzskripte Band 3, ISBN 978-3-89026-932-0 S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 61 M 5.4.9 (Ertragsrisiken versichern) Grundsätzlich kann dies sinnvoll sein, wenn Risiken versicherbar bleiben, also Anbieter geeignete Policen bereitstellen (ausreichend niedriges Risiko) und die Kosten von den Landwirten auf ihre Produkte aufgeschlagen werden können (Bereitschaft innerhalb der Lieferkette). Das iKSP (2017) ignoriert das Risiko eines größeren Ernteausfalls (in Hessen oder weltweit) mit Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Lebensmitteln. Es ist zu klären, ob dieses Risiko grundsätzlich gemindert werden soll. M 5.4.14 (Invasive Arten) Dies ist zugleich ein wichtiger Aspekt im Bereich Gesundheit. Invasive Arten umfassen Krankheitsvektoren und die von ihnen abhängigen Erreger, sowie neuartige Allergene oder Giftpflanzen. Hier ist ein Monitoring essentiell. Andererseits ist mit Bezug auf Ökosysteme grundsätzlich zu fragen, ob der Begriff noch Relevanz hat, da der hoch-dynamische Klimawandel einen schnellen und weitreichenden Umbau von Ökosystemen zur Folge hat. Das Konzept der ‚invasiven Arten‘ findet seinen Ursprung in einem statischen Verständnis von Landschaft, Ökologie, Heimat. Dieses statische Verständnis ist ungeeignet, um dynamische Entwicklungen von Klima und damit folgend Ökosystemen zu folgen. Hessen benötigt zukünftig die schnelle Invasion von Arten und Ökosystemen, die als Ersatz von Arten, die nicht mehr mit dem aktuellen und sich schnell ändernden Klima zurechtkommen, wirken. 8.2 Zusammenfassende Bewertung Die meisten dieser Maßnahmen sind gut, sinnvoll und werden zu einer Klimaanpassung beitragen, wenn sie mit der gebotenen Dringlichkeit umgesetzt werden. Dies bedeutet, dass die Maßnahmen umgesetzt sind, bevor die Klimaänderung die Notwendigkeit der Maßnahme erfordert und nicht nachträglich. Die gewählte Struktur wirkt eher zufällig. Es kommt zu Wiederholungen, da bestimmte dynamische Veränderungen sich auf alle Bereiche auswirken. Es wird daher nicht klar, wo ggf. Schwerpunkte gesetzt werden können oder sollen. Durch diese Herangehensweise verlieren sich Gemeinsamkeiten, also Möglichkeiten, mehr als einen Bereich gezielt zu stärken (siehe aber Annahme 7 und Annahme 15). Nahezu alle Maßnahmen sind Informationsmaßnahmen, die ggf. langfristig eine Klimaanpassung vorbereiten könnten. Es entsteht der Eindruck, dass eine eigentliche, d.h. konkret handelnde Klimaanpassung erst spät, oder im Nachhinein vorgesehen ist. Da jedoch nicht einfach ein Übergang von einem Referenzzustand zu einem neuen Zustand erfolgt, sondern (Kapitel 4) hier ein hoch-dynamischer aber zugleich langfristig ablaufender Prozess stattfindet, bei dem absehbar kein neuer stabiler Zustand eintritt, jedoch gleichzeitig immer weitere, immer neue und immer schwerwiegendere Risiken auftreten, muss jede Form der 229 Vorbereitung so früh wie möglich erfolgen, also heute . In allen Bereichen fehlen die Analyse oder Bewertung konkreter Risiken. Es ist keine Klassifizierung der Risiken nach Eintrittswahrscheinlichkeit oder Schadenshöhe vorgenommen. Es fehlt eine Bewertung der Risiken im Hinblick auf Dringlichkeit. Neben dem iKSP (2017) existiert ein weiteres Dokument mit Maßnahmensteckbriefen, dieses enthält z.T. andere Maßnahmen, bzw. eine direkte Zuordnung der Steckbriefe zum iKSP (2017) gelingt nicht, da der iKSP (2017) auf eine eindeutige Benennung (Nummer) der Maßnahmen verzichtet. Bemerkenswert ist, dass Risiken aufgrund städtischer Struktur fehlen, diese umfassen Hitzeinsel-Effekte, übermäßig verdichtete und versiegelte Siedlungsflächen, Siedlungen in z.B. flutgefährdeten Bereichen usw. Durch den Fokus auf einzelne Gebäude entfallen spezifische Risiken und damit verbundene Elemente einer Klimaanpassung. Insbesondere fehlen Maßnahmen zur bewussten systematischen Begrünung von Städten. 229 Spratt D & Dunlop I (2019) Existential climate-related security risk: A scenario approach. Breakthrough – National Centre for Climate Restoration, policy paper. https://www.breakthroughonline.org.au/papers S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 62 Das Land benötigt dringend einen Prozess, der alle (also wirklich alle, und nicht nur politisch ausgewählte oder anschlussfähige) Risiken erkennt, für relevante oder bedeutsame Risiken geeignete Maßnahmen zur Minderung definiert und dann in Abstimmung zwischen den einzelnen Entscheidungsebenen direkt die Umsetzung ermöglicht. Wesentliche weitere Risiken sind: Störung oder Zusammenbruch von globalen Lieferketten, von denen die Versorgung der Bevölkerung und der Wirtschaft in Hessen abhängt. Mögliche Ursachen sind politische Unruhen, große Extremwetterereignisse, große Ereignisse wie Waldbrände, Dürren, Stürme, Überflutungen außerhalb Hessens. Dies kann direkt zu Problemen mit der Versorgung mit essentiellen Rohstoffen, 230 Komponenten oder Produkten in Hessen führen . Störung der globalen Lebensmittelversorgung durch Missernten, insbesondere Missernten in aufein- 231 anderfolgenden Jahren, aber auch durch die Abnahme des globalen landwirtschaftlichen Ertrages . Großflächiger Waldbrand in Hessen oder Mitteleuropa in extremen Dürrejahren. Politische Unruhen in Hessen aufgrund von Versorgungsproblemen, wirtschaftlichen Krisen, sehr 232 vielen Klima-Flüchtlingen , Krieg, jeweils hervorgerufen durch Ereignisse, die durch den Klimawandel entstanden oder verstärkt wurden. 8.3 Maßnahmen Aus der Analyse folgen direkt wichtige allgemeine Maßnahmen, die nach unserem Verständnis dringend auf Landesebene ergriffen werden sollten. Unserem Verständnis nach sollten Maßnahmen dabei umfänglich, systemisch, allgemein und ermöglichend sein. Das Ziel der Maßnahmen soll sein, die physische Infrastruktur anzupassen und zu härten, so dass sie neuen Gegebenheiten gewachsen ist; zumindest gleichwertig ist die Stärkung der Resilienz der Gemeinschaften und Kommunen, denn auf dieser Ebene müssen reale Ereignisse aufgefangen, verkraftet und verarbeitet werden und auf dieser Ebene finden Heilungs- und Anpassungs- 233 prozesse nach schweren Schadensereignissen statt : 1) Die Dynamik der Klimaänderung sollte unbedingt einer belastbareren Analyse unterzogen werden. Es braucht für das Land und alle Akteure im Land Szenarien, wie mit absehbaren oder möglichen Klimasituationen umzugehen ist – als Risikobewertung. 2) Alle Akteure in Hessen benötigen deutlich detailliertere, aktuelle und soweit möglich belastbarere Daten zu Klimaänderung und Klimaauswirkung in Hessen. Die Daten müssen erwartete, bzw. prognostizierte Klimaänderungen als Zeitreihen und Jahresgänge enthalten. Hier ist ein Ausbau der vorhandenen Struktur beim HLNUG empfehlenswert. 3) Die für Prognosen verwendeten Daten müssen selber zugänglich sein. Quellen sind grundsätzlich anzugeben. Die Darstellung von belastbaren Daten umfasst alle bei der Erzeugung dieser Daten benutzen Annahmen und Randbedingungen. Diese sind zugänglich zu machen. 4) Wir bevorzugen, dass die Prognosen selber an geeigneten Institutionen in Hessen erzeugt werden, wenn nicht auf Prognosen auf Bundes- oder EU-Ebene zurückgegriffen wird. Das Land benötigt die Kompetenz, die Prognosen selber nachvollziehen zu können. 230 COVID-19 hat einige dieser Effekte über sehr kurze Momente gezeigt und sie damit wieder vorstellbar gemacht. 231 Ursachen dafür können sein (i) anthropozän bedingter Verlust landwirtschaftlicher Fläche durch Überflutung, Meeresspiegelanstieg, Klimaänderung, (ii) Abnahme des Ertrages vieler Nutzpflanzen aufgrund höherer Umgebungstemperatur, (iii) Abnahme des Nährstoffgehaltes von Nutzpflanzen aufgrund höherer CO2-Konzentration in der Atmosphäre. 232 Beispielsweise aus Regionen, die unbewohnbar werden, in denen Landwirtschaft nicht mehr ausreichend Erträge liefert, oder aus Norddeutschland und den Niederlanden als Folge des Meeresspiegel-Anstieges. 233 Eine Diskussion mit Fokus auf Energie-Infrastruktur, siehe Linow S (2020) Creating Resilience, Minimizing Vulnerability of Communities. In Leal Filho W et al. (eds.) Affordable and Clean Energy, Encyclopedia of the UN Sustainable Development Goals. Springer. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 63 5) Die Dynamik erfordert einen kontinuierlichen Prozess der Fortschreibung und der Integration von neuen Erkenntnissen. Kontinuierlich verstehen wir als dauerhaft stattfindend – im Gegensatz zu 234 einem diskontinuierlichen Prozess, der nur alle X Jahre stattfindet . 6) Die Identifikation von Risikofaktoren, Zonen erhöhter Risiken usw. sollte auf Landesebene zusammengeführt werden, da insbesondere kleinere Gemeinden nicht die Möglichkeit haben, diese Daten selber zu erheben. Dies sollte zeitnah nach der Identifikation (< 1 Jahr) in Planungsunterlagen und Planungsregeln einfließen. 7) Im Bereich der Klimaanpassung ist ein Vorgehen, bei dem laufend Risiken identifiziert, gewichtet und gemindert werden, dringend erforderlich. Insbesondere die konkrete Minderung identifizierter Risiken ist heute notwendig. 8) Die reale Minderung von Risiken vor Ort kann nicht durch vorbereitende Forschung, Monitoring oder Informationskampagnen ersetzt werden. Bei der aktuell stattfindenden dynamischen Klimaänderung in Hessen geht es um die konkrete Anpassung vor Ort – alle Akteure sind daran zu messen, nicht an dem Diskurs über zukünftige Forschungsansätze. 9) Das Land sollte es den anderen wichtigen Akteuren über die eigenen Werkzeuge der Planung und der Gesetzgebung ermöglichen, schnell und flexibel geeignete Maßnahmen der Anpassung zu ergreifen. Hindernisse sind schnell zu identifizieren und im Anschluss schnell zu beseitigen. Schnell verstehen wir als gemessen in Monaten; ein kontinuierlicher Prozess ist auch denkbar. Wesentlich ist das Ermöglichen. 10) Die Bevölkerung in Hessen, die Kommunen und die Wirtschaft sind in diese Prozesse zu integrieren, ihr Wissen vor Ort wird oft benötigt. Gleichzeitig wird die Sprache der Risiken benötigt, um Akzeptanz für Veränderungen zu gewinnen. 11) Es ist davon auszugehen, dass weitgehende Eingriffe notwendig werden, um Landwirtschaft und 235 zumindest in Teilen des Landes Forstwirtschaft weiter zu ermöglichen . Hierfür werden schnell die Anpassung von Regularien und von planerischen Werkzeugen benötigt. 12) Maßnahmen zur Erhöhung des pflanzenverfügbaren Wassers sind zu entwickeln und umzusetzen. Vorhandene Drainagen von land- und forstwirtschaftlich genutzten Flächen sollten geprüft und in vielen Fällen deaktiviert werden. 13) Es erscheint eine Neudefinition der Ziele einer geregelten Forstwirtschaft in Hessen notwendig: Welche anderen Ziele (Ökosystem-Services) neben dem Ertrag sollen und müssen hessische Wälder in der Zukunft erbringen? Wie können diese Leistungen geeignet und langfristig gesichert werden, wobei gleichzeitig eine extreme Dynamik der Artenzusammensetzung in den Wäldern akzeptiert ist, bzw. die Artenzusammensetzung geeignet gesteuert wird? 14) Alle Akteure werden einen Prozess benötigen, der die Erwartungen an hessische Wälder verändert – beginnend bei der Ästhetik und der Artenzusammensetzung. Wir müssen Abschied nehmen können von einem Bild des Waldes, dass in der Wirklichkeit nicht mehr zu erhalten ist – siehe Abbildung 10. 15) Robuste und großflächige Schutzgebiete, die weitere Bereiche an Mikroklima überdecken, sind elementare Bereiche um notwendige Ökosystem-Services sicherzustellen, Raum für die Anpassung an neues Klima zu ermöglichen und um Erfahrungen über robuste Artenzusammensetzungen zu gewinnen. 16) Gleichzeitig wird zukünftig akzeptiert werden müssen, dass Schutzgebiete keine Rechtfertigung mehr haben können, da das angestrebte Schutzgut (Ökosysteme, bedrohte Arten) aufgrund eines geänderten Klimas oder aufgrund von Desastern (Waldbrand, Überflutung, …) ausstirbt. Es wird dringend ein regulatorischer Mechanismus benötigt, der mehr Dynamik erlaubt, ohne Schutzziele zu gefährden. 17) Maßnahmen, die auch zukünftig in Hessen eine gute und ertragreiche Landwirtschaft ermöglichen, sind nicht nur wirtschaftlich von Bedeutung, sondern betreffen direkt die elementare Daseinsvorsorge der Bevölkerung und damit die Grundlage Hessens. 234 Erneut der Hinweis darauf, dass die dynamisch ablaufende Klimaveränderung in deutlich weniger als 5 Jahren neue Fakten schaffen kann, die in dieser Zeit substantiellen Schaden in Hessen herbeiführen, insbesondere wenn alle Akteure in dieser Zeit nicht agieren können, da sie noch von veralteten Prognosen ausgehen müssen. 235 Dies wäre nicht etwas völlig neues, sondern z.B. vergleichbar mit dem historischen Umbau der Flüsse zu Wasserstraßen oder der engen Versieglung weiter Landesflächen für Verkehrsinfrastruktur (die jeweils beeindruckende Umweltauswirkungen zur Folge hatten). Allerdings wäre mehr Sorgfalt und Rücksicht auf essentielle Ökosystem-Services in Zukunft angemessen. S4F Hessen Fortschreibung des iKSP 64 18) Die hessische Landwirtschaft benötigt neben den oben bereits eingeführten Grundlagen für eine Planung weitergehende Beratung bei der konkreten und immer neu zu definierenden Anpassung von Wirtschaftsformen. 19) Alle beteiligten Akteure werden einen Prozess ermöglichen, der die Anpassung der Lebensmittel- Produktion in Hessen an die Möglichkeiten begleitet. Verbraucher sind auf diesen Prozess vorzubereiten, der für sie nicht nur neue Angebote und das Verschwinden von liebgewonnenem oder 236 Identität stiftenden Produkten umfasst, sondern auch konkret Preissteigerungen umfassen kann . 20) Wir sehen einen Fokus auf soziale Politik, also Politik, die den sozialen Zusammenhalt in den Quartieren und Kommunen stärkt, als essentiell, um das Land auf weitere Auswirkungen des Klimawandels vorzubereiten. Die Landesregierung ist zumindest angehalten, solche Maßnahmen auf der lokalen Ebene zu ermöglichen (also Gesetze oder Planungen anzupassen, die dies heute verhindern). Dies erfordert konkret Maßnahmen, die die Externalisierung von Kosten aus der 237 „Ökonomie“ zum Schaden oder zur Belastung der lokalen Gemeinschaften proaktiv verhindern . 21) Gemeinden und Städte brauchen den finanziellen Spielraum, um sich aktiv auf absehbare Klimaänderungen vorzubereiten. Dazu sollte das Land eigene Regeln geeignet umstellen, vereinfachen, öffnen, sowie auf Bundes- und EU-Ebene auf geeignete Regularien hinwirken. 22) Gemeinden und Städte sie benötigen planerische und regulatorische Werkzeuge, die eine Güterabwägung vor Ort ermöglichen. Das heutige Zwangskorsett insbesondere im Verkehrsplanungsbereich ist dringend so umzustellen, dass Klimaanpassung adäquaten Raum und Ressourcen findet. Dazu sollte das Land eigene Regeln geeignet umstellen, vereinfachen, öffnen, sowie auf Bundes- und EU-Ebene auf geeignete Regularien hinwirken. 238 Abbildung 10 – Buschland mit Baumresten, Dommersberg bei Darmstadt im Sommer 2020 . * * * * * 236 Absehbare Ursachen sind zusätzliche Kosten der landwirtschaftlichen Betriebe für die Anpassung der Wirtschaftsformen einschließlich Bewässerungslandbau, Produktionsrückgänge oder Ernteausfälle durch den Jahresgang des realen Wetters, Rückgang der Produktivität einzelner Ertragspflanzen durch Klimaänderung. 237 Es sind Nachbarn und nicht multinationale Konzerne, die zu Resilienz beitragen und die in Notsituationen das Notwendige unternehmen. 238 Im Darmstädter Ostwald, der auf Diorit gründet und dessen Boden daher bei langanhaltender Sommerdürre den Zugang zum Grundwasser verliert, ist das Verschwinden des Alten (Buchenwaldes) sehr gut zu sehen – was dort als nächstes entsteht, ob es noch Wald sein wird, oder auf exponierten Stellen, wie dem Dommersberg, eher Buschland oder Steppe, wird die Zeit zeigen. 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