Studie der Scientists for Future zur Diskussion um Erdgas
Berlin, 28.01.2021 | Der geplante Ausbau von Erdgas-Infrastruktur in Deutschland lässt sich nicht klimapolitisch begründen und birgt zahlreiche finanzielle Risiken. Zudem wird damit die geplante Energiewende verzögert. Dies sind die Kernaussagen einer neuen Studie, die heute von den Scientists for Future (S4F) veröffentlicht wurde.
Noch vor zehn Jahren war die Begründung für die Nutzung von Erdgas (Methan), dass es als Brückentechnologie für den Übergang in ein künftiges, fossilfreies Energiesystem gebraucht werde, weil es im Vergleich zu Kohle weniger CO2 ausstoße. Bei der Nutzung von Erdgas entstehen jedoch neben CO2 auch Methanemissionen und neuere Studien belegen, dass die Umweltfreundlichkeit von Methan weitaus zu positiv eingeschätzt wurde. Satellitenbeobachtungen, präzisere Messungen und differenziertere Betrachtungen des Gesamtzyklus zeigen, dass Erdgas in seiner Wirkung als Treibhausgas genau so klimarelevant sein kann wie Kohlendioxid: „Neben der direkten Klimawirkung von Methan wurde auch die Gesamtmenge an Treibhausgasemissionen, die bei der Nutzung von Erdgas entstehen, lange unterschätzt,“ stellt S4F-Mitglied Claudia Kemfert fest. „Der vergleichsweise positiv erscheinende Wert für die spezifischen CO2-Emissionen von Erdgas relativiert sich stark, wenn nicht nur die direkten Emissionen, sondern die Treibhausgasemissionen über den gesamten Lebenszyklus berücksichtigt werden.“
Direkte Methanemissionen entstehen bei Förderung, Lagerung, Transport und Verbrauch. Gerade hier hat sich das Bild in den letzten Jahren dramatisch verändert, seitdem Leckagen von Methan aus Pipelines und anderen Teilen der technischen Infrastruktur besser erfasst werden können. Dazu stellt Erdgasexpertin Hanna Brauers (S4F) fest: „Methanemissionen, die durch Leckagen, bewusstes Ablassen oder Abfackeln insbesondere bei der Erdgasförderung entstehen, wurden bisher nicht oder nicht vollständig in die Berechnung der Klimawirkung von Erdgas einbezogen.“
Der Transport von Erdgas als Flüssiggas erzeugt zusätzliche Treibhausgas-Emissionen. Diese entstehen bei Flüssigerdgas-Importen, beispielsweise aus Qatar oder den USA, insbesondere durch die energieintensive Verflüssigung/Kühlung auf -160 °C und liegen in der Größenordnung der notorisch leckagebehafteten Pipeline-Importe aus Russland.
Auch bedeutet ein weiterer Ausbau der Erdgasstrukturen ein erhebliches Risiko für die Finanzierung der Energiewende. Derzeit basieren immerhin 25 % des deutschen Primärenergieverbrauchs auf Erdgas. Eine Deckungslücke wird es jedoch in Zukunft nicht geben, die meisten Zukunftsszenarien zeigen eine Abnahme des Erdgasverbrauchs. Mithin wird der weitere Ausbau von Erdgas-Infrastruktur zum finanziellen Risiko: in Europa ist Deutschland das Land mit den zweithöchsten Gasinvestitionsplänen. Rund 18,3 Milliarden Euro sind für Kraftwerke, Gasnetze und Flüssigerdgas-Terminals in Planung. Bei sinkendem Erdgasverbrauch drohen vorzeitige Stilllegungen und Unternehmensklagen auf Basis der Europäischen Energiecharta. Zudem fehlen diese Gelder für den Ausbau Erneuerbarer Energien.
Das Argument der Brückentechnologie hat aktuell eine Weiterung erfahren: will man anstelle fossiler Erdgasversorgung eine Wasserstofftechnologie und –infrastruktur aufbauen, sollen sich – so lautet die Begründung – dafür Teile der Erdgas-Transportstruktur eignen. Ob die zukünftige Nutzung von Wasserstoff den Ausbau der Erdgasinfrastruktur erfordert, muss schon aus energiewirtschaftlichen und klimapolitischen Gründen hinterfragt werden. Wichtiger wäre es, den Aufbau von europäischen Kapazitäten zur Wasserstofferzeugung ausschließlich aus erneuerbaren Energien und damit auch den Ausbau von erneuerbaren Energien voran zu treiben .
Die Studie „Ausbau der Erdgas-Infrastruktur: Brückentechnologie oder Risiko für die Energiewende?“ findet sich hier:
Textversion
Dieser Text wurde maschinell aus dem PDF Original erzeugt und enthält keine Abbildungen
Diskussionsbeiträge der Scientists for Future 6 | scientists4future.org Ausbau der Erdgas-Infrastruktur: Brückentechnologie oder Risiko für die Energiewende? (Version 1.0, Deutsch) Autor*innen (in alphabetischer Reihenfolge): Hanna Brauers, Isabell Braunger, Franziska Hoffart, Claudia Kemfert, Pao-Yu Oei, Fabian Präger, Sophie Schmalz, Manuela Troschke Zitationsvorschlag: Hanna Brauers, Isabell Braunger, Franziska Hoffart, Claudia Kemfert, Pao-Yu Oei, Fabian Präger, Sophie Schmalz, Manuela Troschke (2021). Ausbau der Erdgas-Infrastruktur: Brückentechnologie oder Risiko für die Energiewende? Diskussionsbeiträge der Scientists for Future 6, 11 pp. doi:10.5281/zenodo.4474498 Zusammenfassung: Erdgas ist keine Brückentechnologie in eine fossilfreie Zukunft. Die Annahme einer im Vergleich zur Kohle günstigeren Klimabilanz von Erdgas muss revidiert werden. Der geplante Ausbau von Erdgas-Infrastruktur in Deutschland lässt sich nicht klimapolitisch begründen und birgt zahlreiche finanzielle Risiken. Zudem wird damit die geplante Energiewende verzögert. Dieser Text wurde von Mitgliedern der „Scientists for Future“ verfasst und durch Kollegen und Kolleginnen hinsichtlich der wissenschaftlichen Qualität (insbesondere der Belegbarkeit von Argumenten) ausführlich geprüft. Scientists for Future (S4F) ist ein überparteilicher und überinstitutioneller Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen, die sich für eine nachhaltige Zukunft engagieren. Scientists for Future bringt als Graswurzelbewegung den aktuellen Stand der Wissenschaft in wissenschaftlich fundierter und verständlicher Form aktiv in die gesellschaftliche Debatte um Nachhaltigkeit und Zukunftssicherung ein. Mehr Informationen unter: de.scientists4future.org Veröffentlicht unter CC BY-SA 4.0 Inhaltsverzeichnis 1. Die zukünftige Nachfrage nach Erdgas wird sinken ................................................................... 3 2. Die Klimawirkung von Erdgas .......................................................................................................... 3 3. Es gibt keine Deckungslücke in der deutschen und europäischen Erdgasversorgung. ....... 4 4. Risiken: Wertverlust und Verzögerung im Ausbau Erneuerbarer Energien ........................... 5 5. Die Bedeutung und Rolle von Wasserstoff .................................................................................. 6 6. Ein Ausbau von Erdgasinfrastruktur hätte negative Klimafolgen und ist energiewirtschaftlich unnötig .......................................................................................................... 7 Literatur ....................................................................................................................................................... 8 2 Ausbau der Erdgas-Infrastruktur: Brückentechnologie oder Risiko für die Energiewende? (Version 1.0, Deutsch) 1. Die zukünftige Nachfrage nach Erdgas wird sinken Erdgas ist im Jahr 2020 noch zentraler Bestandteil der deutschen Energieversorgung. 25 % des deutschen Primärenergieverbrauchs werden mit Erdgas gedeckt (AG Energiebilanzen e.V. 2020). Das in Deutschland genutzte Erdgas wird dabei fast vollständig importiert. Über die Hälfte des importierten Erdgases kommen aus Russland, an zweiter Stelle folgt Norwegen, dritter Hauptlieferant sind die Niederlande (Statista GmbH 2020). Aufgrund seines hohen Erdgasbedarfs ist Deutschland dabei der größte Erdgasimporteur Europas (Heilmann, De Pous, & Fischer 2019). Die Annahmen zum zukünftigen Gasverbrauch in Deutschland sind in verschiedenen Studien und Szenarien untersucht worden. Diese umfassen in aller Regel neben Erdgas auch biogene und synthetische Gase (z. B. Wasserstoff). Die Mehrzahl der momentan verfügbaren Studien und Meta-Analysen berücksichtigt dabei jedoch noch nicht die von der EU im Jahr 2020 verabschiedete Verschärfung der Klimaziele, die einen stärkeren Rückgang in der Nutzung fossiler Energien für Strom und Wärme erforderlich macht (Wachsmuth et al. 2019; Hainsch et al. 2020; Oei, Pao-Yu et al. 2019). 2. Die Klimawirkung von Erdgas Erdgas besteht zu einem Großteil aus dem sehr stark klimawirksamen Gas Methan (CH4). Gemäß den aktuellen Zahlen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ist das Treibhauspotenzial (englisch Global Warming Potential, GWP) von Methan in den ersten 20 Jahren bis zu 87-fach stärker und in den ersten 100 Jahren bis zu 36-fach stärker als das von CO2 (Myhre et al. 2013 Tabelle 8.7, S. 714). Aufgrund des hohen Treibhauspotenzials von Methan, insbesondere in den ersten Jahren nach seiner Emission, kann die Verwendung von Erdgas als (vorübergehender) Ersatz für Kohle zu einem zusätzlichen kurzfristigen Temperaturanstieg führen. Dadurch könnten Kipppunkte im Klimasystem, die zu abrupten und irreversiblen Klimaänderungen führen, noch schneller erreicht werden, d.h. bereits in den nächsten 10 bis 20 Jahren (Schellnhuber, Rahmstorf, & Winkelmann 2016). Neben der Klimawirkung von Methan wurde auch die Gesamtmenge an Treibhausgas- Emissionen (THG-Emissionen), die bei der Nutzung von Erdgas entstehen, lange unterschätzt: THG-Emissionen im Erdgassektor entstehen insbesondere bei der Verbrennung (CO2- Emissionen) und bei Förderung, Transport und Lagerung (Methanemissionen). Oft werden die Methanemissionen, die durch Leckagen, aber auch bewusstes Ablassen oder Abfackeln insbesondere bei der Erdgasförderung entstehen (Cremonese & Gusev 2016), nicht oder nicht vollständig in die Berechnung der Klimawirkung von Erdgas einbezogen. Diese können jedoch bei ~2,3 bis 6 % der Gesamtfördermenge liegen. Einige Schätzungen gehen sogar von 17 % aus (Lenox & Kaplan 2016). Unter Berücksichtigung dieser Zahlen erschienen die aktuellen 3 Annahmen zur Klimabilanz von Erdgas zu klimafreundlich. Bei den spezifischen Kohlendioxid- Emissionen der eingesetzten Energieträger rechnet das UBA mit mindestens 97.920 Kilogramm Kohlendioxid pro Terajoule (kg CO2/TJ) bei Braunkohlen, bei Steinkohlen mit 93.369 kg CO2/TJ und bei Erdgas-GuD-Anlagen mit derzeit 55.827 kg CO2/TJ (UBA 2020). Dieser vergleichsweise positiv erscheinende Wert für die spezifischen Emissionen von Erdgas relativiert sich jedoch, wenn nicht nur die direkten CO2-Emissionen, sondern die gesamten Emissionen im Lebenszyklus von Erdgas berücksichtigt werden. Dann kann Erdgas unter bestimmten Bedingungen eine ähnlich schlechte Klimabilanz aufweisen wie Kohle (Alvarez et al. 2012; Howarth 2014; Hausfather 2015; Gilbert & Sovacool 2017). Wie hoch die Gesamtwirkung von Erdgas als Treibhausgas ist, hängt nicht nur von den Methanemissionen, sondern auch von der Wahl des Zeitraums für die Berechnung seiner Klimawirkung (bspw. 20, 100 oder 500 Jahre) ab: Kürzere Zeiträume ergeben aufgrund der dort höheren Treibhauswirkung von Methan ein größeres Gewicht von Methan im Vergleich zu CO2. Der Vergleich hängt außerdem von der Effizienz der Kraftwerke (Zhang 2016) und der Herkunft des Gases ab. Pipeline-Erdgas aus Russland hat beispielsweise aufgrund der langen Transportwege Methanemissionen, die etwa um den Faktor 10 höher liegen als bei Importen aus Norwegen und den Niederlanden. Bei Flüssigerdgas- (LNG-)Importen z.B. aus Katar oder den USA, entstehen zusätzliche Emissionen durch die energieintensive Verflüssigung aufgrund der Kühlung auf -160 °C, so dass hier die Emissionen in der Größenordnung von Pipeline- Importen aus Russland liegen (BGR, 2020). 3. Es gibt keine Deckungslücke in der deutschen und europäischen Erdgasversorgung. Eine Metastudie des Umweltbundesamtes (UBA) hat vergleichend verschiedene Szenarien zur zukünftigen Gasnutzung betrachtet. Berücksichtigt wurden dabei Entwicklungspfade, die mit den Klimaschutzzielen der Bundesregierung für 2030 vereinbar sind, wobei nach unterschiedlichen Ambitionsniveaus für 2050 (minus 80 % bzw. 95 % gegenüber 1990) differenziert wird (Wachsmuth et al. 2019). Gemeinsam ist allen Szenarien, dass sie von einem Rückgang der gesamten Gasverbräuche (Erdgas und synthetische Gase) ausgehen. Für einen Emissionsrückgang von 80 % bzw. 95 % bis 2050 wird ein Rückgang des Gasverbrauchs um 49 bis 63 % bzw. 14 bis 83 %, jeweils im Vergleich zum Bezugsjahr 2015, prognostiziert. Bei diesen Annahmen ist aber zu beachten, dass der Rückgang der Erdgasnutzung jeweils erheblich stärker ist und dass, je nach Szenario, eine unterschiedlich starke Nutzung von Wasserstoff und synthetischem Methan die Abnahme des Erdgasverbrauchs zum Teil kompensiert (Wachsmuth et al. 2019). Bei der erwarteten Zielerhöhung, hin zu einem klimaneutralen Europa und Deutschland bis zum Jahr 2050, wird die Reduktion von Erdgas noch stärker ausfallen (Auer et al. 2020). Entsprechend des angenommenen Rückgangs des Gasverbrauchs wird in der UBA-Studie kein Bedarf für einen Ausbau des Gasnetzes gesehen, sondern es wird die Auslastung der Fernleitungsnetze sinken. Auf der Ebene der Verteilnetze ist sogar eine Stilllegung eines signifikanten Teils auf Ebene der untersten Druckstufen zu erwarten, da Wohn- und Gewerbegebiete auf andere erneuerbare Energieträger umsteigen werden (Wachsmuth et al. 2019). 4 Auch EU-weite Modellierungen, die Deutschland als Transit-Land zur Versorgung der europäischen Nachbarländer mit Gas berücksichtigen, sehen keinen Bedarf für den Ausbau der Gasnetze (Holz & Kemfert 2021). Die Europäische Kommission geht in momentanen Hochrechnungen von einem Erdgas-Rückgang um 29 % bis 2030 (im Vergleich zu 2015) aus. Vor diesem Hintergrund ist die bereits errichtete Gasinfrastruktur zur sicheren Gasversorgung völlig ausreichend. Geplante Investitionen in neue Gasinfrastruktur stellen damit eine risikoreiche Überinvestition dar (Heilmann, De Pous, & Fischer 2019). 4. Risiken: Wertverlust und Verzögerung im Ausbau Erneuerbarer Energien Vor diesem Hintergrund ist es weder ökonomisch noch ökologisch sinnvoll, dass weitere Investitionen in Milliardenhöhe in den Ausbau der Gasinfrastruktur fließen sollen. Im europäischen Vergleich ist Deutschland das Land mit den zweithöchsten Gasinvestitionsplanungen (Inman 2020). Insgesamt handelt es sich um ca. 18,3 Mrd. Euro für Kraftwerke, Gasnetze und Flüssigerdgas-Terminals. Diese Investitionen haben ein hohes Risiko, zu verlorenen Vermögenswerten (stranded assets) zu werden und müssten zu großen Teilen aus Steuergeldern gezahlt sowie durch die Verbraucher*innen getragen werden (Heilmann, De Pous, & Fischer 2019; Löffler et al. 2019). Bei vorzeitigen Stilllegungen drohen Unternehmensklagen auf Basis der Europäischen Energiecharta, die für den Fiskus zu weiteren Belastungen führen können. Wie oben bereits dargestellt, kommt es u.a. deshalb zu einer solchen Fehlentwicklung, weil der Erdgasbedarf in der Planung überschätzt wird. Beispielsweise stützen sich die Fernleitungsnetzbetreiber (FNB) für die Erstellung des Gasnetzentwicklungsplans (NEP) auf zwei Szenarien, welche lediglich von einem sehr moderaten Rückgang beziehungsweise sogar von einer Zunahme des Gasbedarfes ausgehen (Heilmann, De Pous, & Fischer 2019). Da die im NEP vorgesehenen Ausbaumaßnahmen von den FNB auf die Erdgaskund*innen umgelegt werden können, besteht das Risiko, dass Verbraucher*innen diese unnötigen Kosten zahlen müssen. Ähnlich ist die Situation bei geplanten Investitionen in Flüssigerdgas-Infrastruktur. Die bestehende Infrastruktur ist EU-weit im letzten Jahrzehnt nur zu durchschnittlich 25% ausgelastet gewesen (Holz & Kemfert 2021). Bei einem prognostizierten Rückgang des Gasbedarfs sind auch hier weitere Investitionen weder nötig noch wirtschaftlich. Zugleich sind jedoch drei Terminals in Deutschland geplant, die zum Teil durch Steuergelder finanziert werden (Fitzgerald, Braunger, & Brauers 2019; Hirschhausen, Praeger, & Kemfert 2020). Da Gasinfrastrukturen eine technische Lebensdauer von ungefähr 20 bis 50 Jahren haben, erhöht der Ausbau die Wahrscheinlichkeit, dass die Betreiber diese auch über das Jahr 2050 hinaus betreiben, z. B. aufgrund von resultierendem wirtschaftlichen und politischen Druck zur Weiternutzung der Infrastruktur – was wiederum zu steigenden THG-Emissionen und Temperaturanstiegen führt sowie zum Nichteinhalten von Klimaschutzzielen (Eyre & Baruah 2015; P. Hammond & O’ Grady 2017; Serkin & Vandenbergh 2018; Verhagen, der Voet, & Sprecher 2020). Zusätzliche Investitionen in Erdgas bedeuten klimapolitisch ein Risiko, denn die hier gebundenen Mittel stehen nicht für den Ausbau erneuerbarer Energien oder für 5 Energieeffizienzmaßnahen zur Verfügung (Stephenson, Doukas, & Shaw 2012; Cotton, Rattle, & Van Alstine 2014; Davis & Shearer 2014; Hausfather 2015; Lenox & Kaplan 2016; Healey & Jaccard 2016; Zhang et al. 2016; P. Hammond & O’Grady 2017). Wenn Investitionen in Erdgas die Investitionen in Erneuerbare Energien ersetzen, verzögern sie dadurch den Umbau auf Erneuerbare und flachen die Lernkurve beim Umbau ab, was wiederum die Kosten der globalen Energiewende erhöht. Berechnungen zeigen, dass unter Einhaltung der Klimaziele die weitere Nutzung von Erdgas die Gesamtkosten entweder nicht verringert oder sogar die kumulativen Übergangskosten erhöht (Paula Díaz, Oscar van Vliet, & Anthony Patt 2017; Nava Guerrero et al. 2019). 5. Die Bedeutung und Rolle von Wasserstoff In einem vollständig aus Erneuerbaren Energien gespeisten System wird erneuerbarer Wasserstoff, hergestellt durch die Elektrolyse von Wasser mittels Strom aus PV- und Windkraftanlagen, eine entscheidende Rolle einnehmen. Als flexibel einsetzbarer Energieträger dient er für die Langzeitspeicherung von erneuerbarem Strom, Grundstoff für die chemische Industrie und für die Dekarbonisierung spezieller industrieller Prozesse (Matthes 2020). Das Argument, die zukünftige Nutzung von Wasserstoff erfordere den Ausbau der Erdgasinfrastruktur, muss – wie bereits dargestellt – schon aus energiewirtschaftlichen und klimapolitischen Gründen hinterfragt werden. Hinzu kommt: Während die Bundesregierung in ihrer „Nationalen Wasserstoffstrategie“ (NWS) den Einsatz von Wasserstoff in allen Sektoren voraussagt und eine Wasserstoffwirtschaft etablieren will, ist die Frage der tatsächlichen Produktion der enormen Mengen noch weitestgehend offen. Bis 2030 wird in der NWS ein Bedarf von 90 bis 110 TWh angenommen. Dem steht eine heimische Produktion von 14 TWh gegenüber, was lediglich rund 15 % der anvisierten Menge entspricht (BMWi 2020). Der Großteil muss also durch Importe gedeckt werden. Zwar sieht auch die NWS nur Wasserstoff aus erneuerbaren Quellen als nachhaltig an, jedoch schließt sie auch die Nutzung von nicht-erneuerbarem Wasserstoff aus fossilen Quellen nicht explizit aus (ibd.). Aufgrund der Vorkettenemissionen im Zusammenhang mit der Erdgasproduktion, den hohen Kosten der CO2-Abscheidung sowie den begrenzten CO2- Speicherkapazitäten kann die Herstellung von nicht-erneuerbarem Wasserstoff jedoch nicht als CO2-neutral bilanziert werden (Hebling et al. 2019). Doch auch die Nutzung von importiertem Wasserstoff aus Elektrolyse ist nicht per se klimafreundlich. Zudem ist aus klimaethischer Sicht der Import von erneuerbarem Wasserstoff aus Entwicklungs- und Schwellenländern kritisch zu bewerten. Wird für die Herstellung kein erneuerbarer Überschussstrom eingesetzt, besteht die Gefahr, dass die nationale Emissionsreduktion durch den ausgleichenden Einsatz von fossiler Energie behindert wird. Da ein vollständig auf Erneuerbaren Energieträgern beruhendes Energiesystem jedoch nicht gänzlich ohne Wasserstoff auskommen wird, sollte der Fokus auf einer europäischen Wasserstoffproduktion aus erneuerbaren Energien liegen. Da die Beimischung von grünem Wasserstoff zum Erdgas („Blending“) aufgrund der hohen Wertigkeit ökonomisch, anwendungs- und energietechnisch nicht sinnvoll ist, muss hierfür keine Erdgaskapazität vorgehalten werden (Matthes es al. 2020; Wachsmuth et al. 2019). 6 6. Ein Ausbau von Erdgasinfrastruktur hätte negative Klimafolgen und ist energiewirtschaftlich unnötig Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Bau neuer Erdgasinfrastruktur nicht benötigt wird, den Ausbau von Erneuerbaren Energien sowie Maßnahmen zu Energieeffizienz und -suffizienz ausbremst, Lock-In-Effekte über den Zeitpunkt der von der EU bereits beschlossenen vollständigen Dekarbonisierung bis 2050 hinaus schafft und hohen Wertverlust von Investitionen bedeuten kann. Basierend auf den klimawissenschaftlichen Erkenntnissen ist es daher notwendig, den schrittweisen Erdgasausstieg politisch festzulegen. Da es keine Deckungslücke in der deutschen oder europäischen Erdgasversorgung gibt und Klimaschutzszenarien einen sinkenden Erdgasverbrauch implizieren, gibt es bereits jetzt keine energiepolitische oder energiewirtschaftliche Notwendigkeit für den Neubau von Erdgasinfrastruktur. Koordination: Christoph Schönherr; Redaktion: Franz Ossing 7 Literatur AGEB. (2020). Auswertungstabellen zur Energiebilanz für die Bundesrepublik Deutschland 1990 bis 2019 (Stand September 2020). Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen. https://ag-energiebilanzen.de/10-0-Auswertungstabellen.html Alvarez, R. A., Pacala, S. W., Winebrake, J. J., Chameides, W. L., & Hamburg, S. P. (2012). Greater focus needed on methane leakage from natural gas infrastructure. Proceedings of the National Academy of Sciences, 109(17), 6435–6440. https://doi.org/10.1073/pnas.1202407109 Auer, H., Crespo del Granado, P., Oei, P.-Y., Hainsch, K., Löffler, K., Burandt, T., Huppmann, D., & Grabaak, I. (2020). Development and modelling of different decarbonization scenarios of the European energy system until 2050 as a contribution to achieving the ambitious 1.5 °C climate target—Establishment of open source/data modelling in the European H2020 project openENTRANCE. E & i Elektrotechnik Und Informationstechnik, 137(7), 346–358. https://doi.org/10.1007/s00502-020-00832-7 BGR. (2020). Klimabilanz von Erdgas – Literaturstudie zur Klimarelevanz von Methanemissionen bei der Erdgasförderung sowie dem Flüssiggas- und Pipelinetransport nach Deutschland (p. 58). Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe. https://www.bgr.bund.de/DE/Themen/Energie/Downloads/bgr_literaturstudie_methan emissionen_2020.pdf?__blob=publicationFile&v=2 BMWi. (2020). Die Nationale Wasserstoffstrategie. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Energie/die- nationale-wasserstoffstrategie.pdf?__blob=publicationFile Cotton, M., Rattle, I., & Van Alstine, J. (2014). Shale gas policy in the United Kingdom: An argumentative discourse analysis. Energy Policy, 73, 427–438. https://doi.org/10.1016/j.enpol.2014.05.031 Cremonese, L., & Gusev, A. (2016). Die ungewissen Klimakosten von Erdgas – Bewertung der Unstimmigkeiten in den Daten zu Methanlecks in Europa, Russland und den USA und deren Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit. IASS Working Paper, 540 KB. https://doi.org/10.2312/IASS.2016.040 Davis, S. J., & Shearer, C. (2014). A crack in the natural-gas bridge. Nature, 514(7523), 436– 437. https://doi.org/10.1038/nature13927 Eyre, N., & Baruah, P. (2015). Uncertainties in future energy demand in UK residential heating. Energy Policy, 87, 641–653. https://doi.org/10.1016/j.enpol.2014.12.030 Fitzgerald, L. M., Braunger, I., & Brauers, H. (2019). Destabilisation of Sustainable Energy Transformations: Analysing Natural Gas Lock-in in the case of Germany. STEPS Working Paper, 106. https://opendocs.ids.ac.uk/opendocs/handle/123456789/14499 Gilbert, A. Q., & Sovacool, B. K. (2017). Benchmarking natural gas and coal-fired electricity generation in the United States. Energy, 134, 622–628. https://doi.org/10.1016/j.energy.2017.05.194 8 Hainsch, K., Göke, L., Kemfert, C., Oei, P.-Y., & Von Hirschhausen, C. (2020). European Green Deal: Mit ambitionierten Klimaschutzzielen und erneuerbaren Energien aus der Wirtschaftskrise (2020 (28); Wochenbericht). DIW Berlin – Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung. https://www.diw.de/de/diw_01.c.793327.de/publikationen/wochenberichte/2020_28_ 1/european_green_deal__mit_ambitionierten_klimaschutzzielen_und_erneuerbaren_ener gien_aus_der_wirtschaftskrise.html Hammond, G. P., & O’Grady, Á. (2017). The life cycle greenhouse gas implications of a UK gas supply transformation on a future low carbon electricity sector. Energy, 118, 937–949. https://doi.org/10.1016/j.energy.2016.10.123 Hausfather, Z. (2015). Bounding the climate viability of natural gas as a bridge fuel to displace coal. Energy Policy, 86, 286–294. https://doi.org/10.1016/j.enpol.2015.07.012 Healey, S., & Jaccard, M. (2016). Abundant low-cost natural gas and deep GHG emissions reductions for the United States. Energy Policy, 98, 241–253. https://doi.org/10.1016/j.enpol.2016.08.026 Hebling, M. Ragwitz, T. Fleiter, U. Groos, D. Härle, A. Held, M. Jahn, N. Müller, T. Pfeifer, P. Plötz, O. Ranzmeyer, A. Schaadt, F. Sensfuß, T. Smolinka, M. Wietsche (2019): Eine Wasserstoff-Roadmap für Deutschland. https://www.ise.fraunhofer.de/content/dam/ ise/de/documents/publications/studies/2019-10_Fraunhofer_Wasserstoff- Roadmap_fuer_Deutschland.pdf Heilmann, F., De Pous, P., & Fischer, L. (2019). Gasinfrastruktur für ein klimaneutrales Deutschland – jetzt den richtigen Kurs einschlagen (Briefing Mai 2019). E3G. https://www.e3g.org/publications/energieinfrastruktur-fuer-ein-klimaneutrales- deutschland-zusammenfassung/ Hirschhausen, C. von, Praeger, F., & Kemfert, Claudia. (2020). Fossil natural gas exit – A new narrative for the European energy transformation towards decarbonization. DIW Berlin Discussion Paper, 1892, IV, 46 S. https://www.diw.de/documents/publikationen/ 73/diw_01.c.798191.de/dp1892.pdf Holz, F., & Kemfert, C. (2021). Die kurz- und langfristige Bedarfsentwicklung im deutschen und europäischen Erdgasmarkt: Stellungnahme zur Fertigstellung und Inbetriebnahme des Nord Stream 2 Pipeline-Projekts [Politikberatung Kompakt]. DIW Berlin – Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung. https://www.diw.de/documents/publikationen/73/ diw_01.c.808627.de/diwkompakt_2021-162.pdf Howarth, R. W. (2014). A bridge to nowhere: Methane emissions and the greenhouse gas footprint of natural gas. Energy Science & Engineering, 2(2), 47–60. https://doi.org/10.1002/ese3.35 Inman, M. (2020). Gas at a Crossroads: Why the EU should not continue to expand its gas infrastructure. https://globalenergymonitor.org/wp- content/uploads/2020/02/Gas_at_a_Crossroads_EU.pdf 9 Lenox, C., & Kaplan, P. O. (2016). Role of natural gas in meeting an electric sector emissions reduction strategy and effects on greenhouse gas emissions. Energy Economics, 60, 460– 468. https://doi.org/10.1016/j.eneco.2016.06.009 Löffler, K., Burandt, T., Hainsch, K., & Oei, P.-Y. (2019). Modeling the low-carbon transition of the European energy system – A quantitative assessment of the stranded assets problem. Energy Strategy Reviews, 26, 100422. https://doi.org/10.1016/j.esr.2019.100422 Matthes, F., Heinemann, C., Hesse, T., Kasten, P., Roman Mendelevitch, eebac, D., & Timpe, C. (2020). Wasserstoff sowie wasserstoffbasierte Energieträger und Rohstoffe – Eine Überblicksuntersuchung. Öko-Institut. https://www.oeko.de/fileadmin/oekodoc/ Wasserstoff-und-wasserstoffbasierte-Brennstoffe.pdf Myhre, G., Shindell, D., Bréon, F.-M., Collins, W., Fuglestvedt, J., Huang, J., Koch, D., Lamarque, J.-F., Lee, D., Mendoza, B., Nakajima, T., Robock, A., Stephens, G., Zhang, H., Aamaas, B., Boucher, O., Dalsøren, S. B., Daniel, J. S., Forster, P., … Shine, K. (2013). Anthropogenic and Natural Radiative Forcing (Climate Change 2013: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC)). Nava Guerrero, G., Korevaar, G., Hansen, H., & Lukszo, Z. (2019). Agent-Based Modeling of a Thermal Energy Transition in the Built Environment. Energies, 12(5), 856. https://doi.org/10.3390/en12050856 Oei, P.-Y., Hainsch, K., Löffler, K., Hirschhausen, C. von, Holz, F., & Kemfert, C. (2019). Neues Klima für Europa: Klimaschutzziele für 2030 sollten angehoben werden. (2019 (41); Wochenbericht, pp. 754–760). DIW Berlin – Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung. https://www.diw.de/de/diw_01.c.682902.de/publikationen/ wochenberichte/2019_41_1/neues_klima_fuer_europa__klimaschutzziele_fuer_2030_sol lten_angehoben_werden.html Paula Díaz, Oscar van Vliet, & Anthony Patt. (2017). Do We Need Gas as a Bridging Fuel? A Case Study of the Electricity System of Switzerland. Energies, 10(7), 861. https://doi.org/10.3390/en10070861 Schellnhuber, H. J., Rahmstorf, S., & Winkelmann, R. (2016). Why the right climate target was agreed in Paris. Nature Climate Change, 6(7), 649–653. https://doi.org/10.1038/nclimate3013 Serkin, C., & Vandenbergh, M. P. (2018). Prospective Grandfathering: Anticipating the Energy Transition Problem. Minnesota Law Review, 102, 1019–1076. Statista GmbH (2020): Verteilung der Erdgasbezugsquellen Deutschlands im Jahr 2019. June 1, 2020. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/151871/umfrage/erdgasbezug- deutschlands-aus-verschiedenen-laendern/ Stephenson, E., Doukas, A., & Shaw, K. (2012). “Greenwashing gas: Might a ‘transition fuel’ label legitimize carbon-intensive natural gas development?” Energy Policy, 46, 452–459. https://doi.org/10.1016/j.enpol.2012.04.010 10 UBA. (2020). Kraftwerke: Konventionelle und erneuerbare Energieträger. https://www.umweltbundesamt.de/daten/energie/kraftwerke-konventionelle- erneuerbare#kraftwerkstandorte-in-deutschland Verhagen, T. J., der Voet, E., & Sprecher, B. (2020). Alternatives for natural‐gas‐based heating systems: A quantitative GIS‐based analysis of climate impacts and financial feasibility. Journal of Industrial Ecology, jiec.13047. https://doi.org/10.1111/jiec.13047 Wachsmuth, J., Michaelis, J., Neumann, F., Degünther, C., Köppel, W., & Asif Zubair, Z. (2019). Roadmap Gas für die Energiewende – Nachhaltiger Klimabeitrag des Gassektors. Umweltbundesamt. https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/ medien/1410/publikationen/2019-04-15_cc_12-2019_roadmap-gas_2.pdf Zhang, X., Myhrvold, N. P., Hausfather, Z., & Caldeira, K. (2016). Climate benefits of natural gas as a bridge fuel and potential delay of near-zero energy systems. Applied Energy, 167, 317–322. https://doi.org/10.1016/j.apenergy.2015.10.016 11
Die Pressekonferenz: Erdgas – Brückentechnologie oder Risiko für die Energiewende? | Fridays for Future
Ansprechpartnerinnen:
Prof. Dr. Claudia Kemfert, e-mail: Tel.: 030 8978 9663
Kontakt: Sophia Pott, FFF Kommunikation, Tel.: 0151-52377262; e-mail:
Diesen Beitrag teilen: